"Ins Diabolische entstellt": Der lang kultivierte Antisemitismus und seine Folgen
Seite 2: Die Forderung nach Assimilation und der Verstellungsvorwurf
- "Ins Diabolische entstellt": Der lang kultivierte Antisemitismus und seine Folgen
- Die Forderung nach Assimilation und der Verstellungsvorwurf
- Auf einer Seite lesen
Der rechtlichen Emanzipation der Juden folgte die Assimilationsforderung. Vor allem Philosemiten glaubten, dass durch einen Wegfall äußerlich erkennbarer Merkmale oder gar durch die Taufe die antijüdische Hetze ein Ende finden würde beziehungsweise die Juden "von ihren schlechten Eigenschaften befreit" würden - so auch der Tenor von Wilhelm Marrs Judenspiegel.
Dagegen mutete der Wunsch nach Identitätswahrung wie Verrat an. Aber auch die assimilierten Juden behielten ihre Markierung aus der Sicht der nichtjüdischen Öffentlichkeit bei, bis hin zur Unterstellung, dass sie sich aus strategischen Gründen verstellten und dies nur besser konnten als ihre auffälligeren Glaubensgenossen und dass sie so das politische System hintergehen wollten. Dieser Verstellungsvorwurf verhinderte somit sogar, dass ernst gemeinte Versuche der Assimilation überhaupt als solche wahrgenommen und anerkannt werden konnten.
Am Beispiel Richard Wagners, der nach seinem Karriereknick gegen seinen Konkurrenten Giacomo Meyerbeer polemisierte, wird diese Sicht, aber auch die Folgen für die assimilierten Juden, deutlich. Richard Wagner schreibt:
Der gebildete Jude hat sich die erdenklichste Mühe gegeben, alle auffälligen Merkmale seiner niederen Glaubensgenossen von sich abzustreifen: In vielen Fällen hat er es selbst für zweckmäßig gehalten, durch die christliche Taufe auf die Verwischung der Spuren seiner Abkunft hinzuwirken. Dieser Eifer hat den gebildeten Juden aber nie die erhofften Früchte gewinnen lassen wollen: Er hat nur dazu geführt, ihn vollends zu vereinsamen.
Fazit: Die Juden konnten es den Nichtjuden nicht recht machen. Versuchten sie ihre Kultur (auch äußerlich) zu bewahren, dann wurden sie als integrationsverweigernd und "undeutsch" eingestuft. Wollten sie sich hingegen assimilieren, dann unterstellten ihnen viele Nichtjuden Verstellung und Parasitentum. So konnte alles, was auf "Besserung" hätte hindeuten können, wieder uminterpretiert und somit ins stereotype Licht zurückgeordnet werden.
Ein Beispiel genügte dabei bereits, um die gesamte Unterstellung zu "beweisen" - entsprechend unserer generalisierenden "Pars-pro-toto"-Wahrnehmung. Dies widerspricht entschieden Katz' Schlussfolgerung, dass die Juden lediglich die Selbstmarkierung hätten aufgeben müssen, um dem Rassismus zu entgehen. Über die Definitionsmacht, wer fremd und mit welchen Eigenschaften ausgestattet ist, verfügt aber immer der Mächtigere in einer hierarchischen Konstellation - der, der die Gesetze und Umstände in einem Gemeinwesen prägt, und das war im europäischen Kontext niemals die Minderheitengruppe der Juden.
Die Folgen des Misstrauensdiskurses schlugen sich in Parlamentsdebatten und Medien nieder und weisen einige Parallelen zu den Leitkulturdebatten des 21. Jahrhunderts auf, etwa wenn dem Judentum "Unvereinbarkeit mit der Moderne" vorgeworfen wurde, was an Riten wie dem Schächten festzumachen wäre.
Das Religiöse an sich schien in einer "aufgeklärten" Gesellschaft keinen Platz mehr zu haben und sollte in die Unsichtbarkeit verbannt werden. Auch hier wurde der Widerspruch zum sonst eher als fortschrittlich geltenden Judentum ignoriert - ebenso, wie auch die Vorstellung vom prototypischen Deutschen durch die Debatte eine Re-Christianisierung erfuhr.
Obwohl in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger als ein Prozent der Bevölkerung Juden waren, galten sie als gefährliche Fremdkörper und als eine die Mehrheit bedrohende Personengruppe, die sich nicht integriert hätte: Ein Beispiel dafür, wie ein Feindbild herbeigeredet werden kann.
Das Misstrauen den jüdischen Bürgern gegenüber machte sich in Forderungen nach einer Untersuchung der Thoraschulen und deren Lehrbücher sowie nach Predigten in deutscher Sprache deutlich. Das Misstrauen blieb - trotzt aller Bemühungen von jüdischer Seite.
Die immer wiederkehrende Verweigerung, Juden als gleichwertige Bürger anzuerkennen, schürte auch Misstrauen und vor allem Resignation auf deren Seite. Nur wenigen Juden gelang der Spagat zwischen all den unerfüllbaren Anforderungen und ihrem eigenen Identitätsgefühl. Von der Mehrheitsgesellschaft lieber gehört wurden sowieso diejenigen, die sich ihrer Gruppe gegenüber unsolidarisch verhielten und persönlichen Nutzen daraus zogen, als (ehemalige) Juden das "Jüdische" abzulehnen.
Anpassung oder Abgrenzung?
Innerhalb der jüdischen Gemeinden wurde heftig diskutiert, ob man sich anpassen oder eher abgrenzen solle. Es gab beides. Misstrauen spiegelte sich auf beiden Seiten wider: Durch die Diskriminierung der Juden wurde die sich selbst erfüllende Prophezeiung der Andersartigkeit regelrecht kultiviert.
Ein gemeinsames Moment des antisemitischen wie des islamophoben Diskurses ist die Praxis, zum Beweis für die Verwerflichkeit des jeweils Anderen dessen Schriften und Lehren in Auszügen heranzuziehen. Diese Praxis wurde für Deutschland in den Neunzigerjahren in Bezug auf den Islam vor allem von der fundamentalistischen Christlichen-Mitte (CM) vorgeführt. Ähnlich argumentieren auch das evangelikale Institut für Islamfragen, einige Mainstream-Medien, ein prominenter Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung und etliche Internetblogs, sowie inzwischen einige populistische Gruppen.
Von vielen Islamhasser-Gruppen wird die Argumentation (oft ohne Wissen um deren Herkunft) übernommen. Aber nicht nur Pseudoislamwissenschaftler wie Adelgunde Mertensacker von der Partei "Christliche Mitte", auch einige "echte" Islamwissenschaftler oder Orientalisten haben es geschafft, mit dieser Praxis der selektiven Koran- und Scharia-Auslegung ins Rampenlicht zu gelangen, wofür Hans-Peter Raddatz exemplarisch an prominenter Stelle steht.
So wie einst Eisenmenger und Rohling selektiv das "Alte Testament", die Halacha, die Kabbala, sowie philosophische Bücher und Morallehren des Judentums ausschlachteten, wobei ihre Thesen durch ihre Pseudowissenschaftlichkeit ebenso bestachen wie durch ihre Langlebigkeit, so wird heute in gleicher Weise selektiv und verallgemeinernd Zitatgut aus Koran und Sunna extrahiert, um die Überheblichkeit, den Expansionismus, die Unehrlichkeit und damit die Gefährlichkeit des Islams an sich zu belegen.
"Die Scharia" dient in dieser eingeschränkten Wahrnehmung inzwischen als Inbegriff eines repressiven Regelwerks menschlicher Entmündigung. Die selektive Quellenrecherche hat den gleichen Zweck wie damals: die Verwerflichkeit und Niedertracht des Gegenübers zu belegen und auf immer zu zementieren, denn die Denkweise erscheint bestechend plausibel: Wenn dies in den Urschriften angelegt ist, dann kann dies als Beweis für die Unveränderlichkeit muslimischen Seins gewertet werden. Selbst, wenn es offensichtliche Gegenbeispiele für diese "Logik" gibt, dann wird doch auch der andersdenkende und praktizierende Muslim in diesem Sinne nutzbar gemacht. Er wird zur berühmten Ausnahme erklärt, die die unterstellte Regel einmal mehr bestätigt.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.