Integration nur mehr eine romantische Idee

Frankreich: Wie bestimmte Schulen gemieden werden

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Für die Reichen und Wohlhabenden sei der Wohnort seit langem der wichtigste "soziale Marker". Die Wahl des Wohnortes stünde mit dem ganzen "sozialen Schicksal" in engster Verbindung, sie entscheide über die Zukunft der Kinder, über ihre Ausbildungschancen und über ihre Entwicklung, so die Beobachtungen des französischen Soziologen Eric Maurin, der seine Diagnosen über den Zustand der französischen Gesellschaft auf reichhaltiges statistisches Material stützt.

Seine Folgerung: Es gibt in unserem Nachbarstaat eine Entwicklung, die im öffentlichen Bewusstsein noch nicht deutlich genug wahrgenommen wird: eine soziale Absonderung, die nicht nur die viel diskutierten Problemviertel betrifft (vgl. Gesellschaft ohne Kitt): Die Problemviertel sind seiner Meinung nach nur eine Folge des Separationsprozesses, der die ganze Gesellschaft erfasst hat. Besonders sichtbar sei dies in der Wahl der Wohnorte. Eine Vermischung unterschiedlicher sozialer Schichten würde tunlichst vermieden (vgl. Allgemeine Abschottung).

Eine aktuelle Meldung der französischen Tageszeitung Le Monde, die erste Daten zum Schulbeginn in Frankreich veröffentlicht, scheint nun diesen Trend der Separation zu bestätigen. Das französische Äquivalent zum deutschen "Schulsprengel" ist die "carte scolaire" (vgl. Ségo, Sarko, Sicherheit). Die Kommunalverwaltung, "la mairie", legt mit dieser fest, welche Schule die Kinder eines bestimmten Bezirks besuchen sollen.

Nach Angaben der Zeitung zeigt sich nun, dass mehr und mehr Eltern, die über gute Ausbildung verfügen und am besten informiert sind, sich um diese Zuweisung drücken. Vor allem natürlich, wenn ihre Kinder auf eine Schule geschickt werden, deren soziale Zusammensetzung, bzw. deren Lage in einem benachteiligten Viertel, die Aussichten auf gute Schulausbildung trübt.

Wie der Le Monde-Artikel beklagt, greifen immer mehr Eltern in die faule Trickkiste, um ihren Zöglingen den Zugang zu einer besseren Schule zu ermöglichen. Bei Geschiedenen gebe man die Adresse desjenigen an, der im besseren Viertel wohnt; "allen voran Journalisten, Persönlichkeiten aus dem Show-Biz und solche mit politischer Unterstützung" würden Beziehungen spielen lassen oder berufliche Gründe angeben, um die Schullaufbahn von Anfang an aufs bessere Gleis zu stellen und schließlich werde auch beobachtet, dass manche für die Einschreibung Briefkastenadressen angeben.

Um die zugewiesene schlechtere Schule zu umgehen, gibt es allerdings - ähnlich wie in Deutschland ("Gastschulantrag") - auch einen offiziellen Weg, nämlich die Ausnahmeanträge. Dafür genügt beispielsweise, dass man bestimmte Angebote ("Russischunterricht") haben will, die nur von einer ausgesuchten Schule offeriert werden. Darüber hinaus kann man auf Privatschulen ausweichen, die derzeit einen Boom erleben (in Frankreich werden Lehrer von Privatschulen vom Staat bezahlt, Anerkennungsprobleme von schulischen Leistungen, die dort erbracht werden, gegenüber staatlichen Schulen stellen kein Problem dar).

Nach Auskunft eines französischen Grundschullehrers, der in seiner 20köpfigen Klasse im "Bahnhofsviertel" von Montpellier Neunjährige aus 14 Nationen unterrichtet, liegen die Zahlen für die Ausnahmeanträge der "carte scolaire" bei 40 Prozent. Auch in seinem Bezirk würden die Eltern alles Mögliche in Gang setzen, um der Schule auszuweichen. Das Gespräch über Integration in Frankreich geht seiner Meinung nach von einer "romantischen Vorgabe" aus, jener der Revolution Ende des 18.Jahrhunderts, wonach alle Franzosen gleich seien. Das stimme mit der sozialen Realität längst nicht mehr überein. Das Festhalten an diesem "philosophischen Grundsatz" verstelle jedoch den Blick auf gegenwärtige Verhältnisse. Für die die Ghettos und die "Communautés" dort würde politisch keine angemessene Arbeit gemacht, weil man ideologisch blind dafür sei.