Intensivmedizin: Versorgung der Bevölkerung in Gefahr
Die Corona-Pandemie hat die Lage nur verschärft. Der Mangel in der Pflege ist hausgemacht. Daran werden auch Pseudolösungen nichts ändern
Nicht erst seit Ausbruch der Corona-Pandemie sind Intensivstationen für viele schwer Erkrankte die buchstäblich letzte Rettung. Inzwischen erfahren wir täglich durch die Medien, wie es in den Intensivstationen langsam eng wird.
Das jedoch ist nicht nur eine schicksalhafte Erscheinung der Pandemie, die zweifellos eine beispiellose Belastung der Intensiv-Teams mit sich bringt, sondern auch Resultat einer Entwicklung der letzten Jahre, die vor allem auf einen dramatischen Schwund von Pflegekräften zurückgeht. Mehrfach haben Fachgesellschaften warnend auf diese Situation hingewiesen1 - ohne dass sich Entscheidendes geändert hat.2
Nach einer Erhebung des "Krankenhausbarometer 2019" können 97 Prozent aller größeren Kliniken offene Stellen in der Intensivpflege nicht besetzen.
Seit 2015 verlassen jährlich mehr als sieben Prozent der Intensivpflegekräfte ihren Arbeitsplatz, in Krankenhäusern ab 600 Betten sind es sogar 8,5 Prozent.
Dem steht die Anzahl der offenen Stellen im Pflegedienst der Intensivstationen gegenüber, die über die Jahre zugenommen hat. Zurzeit fehlen rund 3.000 bis 3.500 Intensivpflegekräfte.3 Konkreter bedeutet das, dass es in den meisten Kliniken im Intensiv-Pflegebereich bis zu neun offene Stellen gibt.
Die Gründe für die Berufsflucht sind vielfältig: zu hohe Arbeitsbelastung durch Personalmangel, unzureichendem Pflegeschlüssel und Zeitdruck. Hinzu kommt die schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie, weil immer wieder Abforderungen aus "dem Frei" erfolgen.
Hoher Krankenstand in der Pflege
Die erhöhten Belastungen bilden sich auch im Krankstand der Beschäftigten ab. Der Gesundheitsreport der BARMER 2020 ermittelt die durchschnittliche Dauer von Arbeitsunfähigkeiten für Berufstätige in der Krankenpflege mit 27,5 Tage pro Versicherungsjahr in Schleswig-Holstein. Zum Vergleich: Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit pro Berufstätigem und Versicherungsjahr beträgt durchschnittlich 18,5 Tage.
Verschiedene internationale Studien haben gezeigt, dass eine schlechtere pflegerische Besetzung mit einer erhöhten Mortalität der Intensivpatienten verbunden ist.
Eine Selbsteinschätzung der Fachkräfte zeigt alarmierende Ergebnisse in einer Intensivpflegeumfrage 2017 durch das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung. Nur ein Bruchteil der Intensivpflegenden betrachtet die Patientensicherheit angesichts der angespannten Personalsituation als gewährleistet an.4
Wegen der personellen Unterversorgung auf Intensivstationen ist es an der Tagesordnung, dass Intensivbetten gesperrt werden und für einen begrenzten Zeitraum für die Krankenversorgung nicht zur Verfügung stehen. Im Durchschnitt sind deutschlandweit täglich 22,4 Prozent aller Intensivbetten gesperrt.
Lag 2018 die Betreuungsrelation auf Intensivstationen meist bei 3:1 in der Tagschicht und 3,5:1 in der Nacht, hat sich das durch die Personaluntergrenzenverordnung zumindest auf dem Papier geändert. Ab 01.01.2021 gilt sogar: Tagschicht 2:1 bzw. 3:1 nachts.
Kritik an Pseudolösungen
Was zunächst wie eine deutliche Verbesserung aussieht und nahezu den Vorstellungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und verschiedener Berufsverbände entspricht, droht sich in Zukunft zu einem Fake auszuwachsen. Denn wo sollen die fehlenden Pflegekräfte herkommen? Der Stellenmarkt für dreijährig examinierte Pflegefachpersonen ist leergefegt.
Das wird zu weiterem Bettenabbau auf den Intensivstationen führen, anders werden die Kliniken die Vorgaben nicht erfüllen können. Bemühungen um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, damit der Beruf wieder attraktiver wird, sind nicht in Sicht. Angedacht wird eine Reduktion der Krankenhäuser, was einem Bettenabbau gleichkäme.
Aus Sicht einer zufriedenstellenden Daseinsfürsorge wird das Problem einer drohenden intensivmedizinischen Unterversorgung nicht ohne strukturelle Änderungen zu lösen sein. Bei einer Umfrage unter Intensivpflegekräften, wo sie die Ursachen für diese Misere sähen, antworteten 97 Prozent, dass ökonomische Interessen in den Vordergrund geraten sind. Inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass das bestehende DRG-System das hauptsächliche Instrument der Ökonomisierung des Gesundheitswesens ist und das eine bedarfsorientierte Versorgung behindert.
Schnelle Änderungen sind notwendig. Die Pflegenden, die jetzt in der Pandemie bis zur Erschöpfung "systemrelevant" tätig sind, werden weiter ihrem Beruf den Rücken zukehren, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden, die ihr Vertrauen auf Besserung gewinnen. Pseudolösungen werden nicht weiterhelfen.
Um notwendigen Änderungen einen Impuls zu geben hat sich in Kiel das "Kieler Pflegebündnis" gegründet. Dabei handelt es sich um einen offenen Zusammenschluss von Gruppen, Initiativen, Verbänden und Einzelpersonen, wie Ärzt*innen, Pflegekräfte, Patien*tinnen und Bewohner*innen von Einrichtungen mit unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen, aber einig in der Überzeugung, dass im Gesundheits- und Sozialbereich dringender Handlungsbedarf besteht. die Teilnehmer legen großen Wert auf die Unabhängigkeit von parteipolitischen Interessen und Ausrichtungen.
Das Kieler Pflegebündnis hat sich zunächst an die Kieler Ratsversammlung als demokratisch gewählte Institution gewandt, die wie andere demokratisch gewählten Institutionen Verantwortung für das Wohl der Bürger trägt. Das Bündnis hat einen Fragenkatalog erarbeitet, mit dessen Hilfe die Situation der Intensiv-Versorgung in der Region Kiel festgestellt werden soll, damit in weiteren Schritten Maßnahmen ins Auge gefasst werden können.
Siegfried Lauinger ist Allgemeinarzt und Psychotherapeut im Ruhestand. Er ist seit über 40 Jahren aktiv in der Friedensbewegung und im "Kieler Pflegebündnis" aktiv.
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