Interview: Will Putin noch den "Regime Change"?
Auch der führende russische Militärexperte Wassili Kaschin war schockiert über die Invasion in der Ukraine. Im Gespräch mit Telepolis analysiert er strategisch die aktuelle Situation
Wassili Kaschin, Sicherheitsexperte der Russischen Akademie der Wissenschaften, ist der führende Fachmann für strategische Problemstellungen sowie Senior fellow am Zentrum für europäische und internationale Studien an der Higher School of Economics in Moskau.
Sie meinten in einem Interview Mitte Februar, eine Invasion wäre im Fall der Ukraine "völlig dumm", weil sie die gesamte diplomatische Strategie kaputt machen würde. Eine dauerhafte Besetzung größerer Gebiete würde auch enorme Ressourcen verbrauchen. Was sagen Sie jetzt dazu, dass diese Militäroperation dennoch durchgeführt wird?
Wassili Kaschin: Ich habe mich wie alle getäuscht, was die Entschlossenheit der russischen Führung angeht. Alle glaubten, dass der Truppenaufmarsch ein Element des diplomatischen Drucks war, um einige Vereinbarungen mit den USA durchzusetzen. Was wir jetzt haben, ist offenbar eine Folge des Überraschungseffekts, auf den Moskau letztendlich gesetzt hat. Keiner von uns hätte gedacht, dass es so weit kommen könnte.
Die US-Geheimdienste haben ja im Voraus vor solch einem Plan gewarnt.
Wassili Kaschin: Auf Satellitenbildern war zu sehen, dass es eine nicht zu verbergende Truppenkonzentration in der Nähe der ukrainischen Grenze gab, aber nicht, was dort genau vor sich ging. Man hätte vermuten können, dass es sich um eine echte Offensive handelte, aber parallel liefen Verhandlungen mit den USA. Anscheinend sind sie nicht so verlaufen, wie die russische Seite es erwartet hatte, und sie hat sich dann zu dieser Offensive entschieden.
Muss man damit rechnen, dass sie länger dauert, oder könnte sie bald zu Ende gehen? Wie sieht es mit den Ressourcen aus?
Wassili Kaschin: Die letzte Militäroperation dieser Art war die US-Invasion im Irak 2003. Die US-Armee besetzte Bagdad drei Wochen nach Beginn der Invasion. Und es brauchte weitere Wochen, um andere wichtige Punkte zu besetzen. Dann blieben die Amerikaner im Guerillakrieg stecken.
Die Ukraine ist größer als der Irak, viel besser bewaffnet, wird von außen unterstützt und ist kampfbereiter. Die Aufgabe an sich ist schwieriger, das Tempo jedoch normal, wenn man auch bedenkt, dass die ukrainischen Truppen in den Städten konzentriert sind. Die Hafenstadt im Donbass, Mariupol, hat etwa rund 400.000 Einwohner, und die Einnahme geschieht langsam, obwohl die Stadt vollständig umzingelt ist.
Ein blutiger Durchbruch macht aus russischer Sicht keinen Sinn
In zweieinhalb Wochen hat das russische Militär nur kleine Teile der Ukraine besetzt. Deutsche Medien gingen zuletzt davon aus, dass der russische Angriff ins Stocken geraten ist.
Wassili Kaschin: Ich würde nicht sagen, dass er stockt. Die ukrainische Zeitung Dzerkalo Tyzhnia veröffentlichte einen Leak aus den Verhandlungen, der die Maximalforderungen der russischen Seite zeigt: die Anerkennung der Donbass-Republiken innerhalb von Grenzen der Gebiete Donezk und Lugansk, die Anerkennung der russischen Krim, die Neutralität der Ukraine sowie Verpflichtungen in Bezug auf die russische Sprache.
Russland spricht offenbar nicht davon, dass es das Territorium der Ukraine besetzten möchte oder dass die Ukraine die Regierung wechseln sollte. Als Präsident Putin "Demilitarisierung" und "Denazifizierung" anfangs als Ziele setzte, konnte man das als Vorhaben interpretieren, eine Art "Regime Change" durchzuführen, so unklar war es. Jetzt dürfte das anders sein.
Wir sehen gerade, dass die heftigsten Kämpfe hauptsächlich im Donbass stattfinden. Gleichzeitig blockieren russische Truppen eine Reihe von Großstädten wie Kiew, Charkow, Tschernihiw und Sumy, und es sind parallel intensive geheime Verhandlungen im Gange, wo man einige Fortschritte erwarten kann.
Wir haben zwar nicht alle Informationen, aber wenn ein Kompromiss wenigstens in Sicht ist, macht es keinen Sinn für das russische Militär, vorne durchzubrechen und einen extrem teuren und blutigen Angriff auf riesige Städte wie Kiew und Charkow zu fahren. Man blockiert sie weiter und setzt gezielte Angriffe auf die Standorte der ukrainischen Truppen fort, während die Verhandlungen weiterlaufen.
Das Ziel "Denazifizierung" ist besonders nebulös formuliert. Ist das Teil der Propaganda nach innen – für die Russen selbst?
Wassili Kaschin: Die Amerikaner hatten im Irak 2003 oder beim Militäreinsatz in Libyen 2011 erklärt, Demokratie installieren oder den Ländern Freiheit bringen zu wollen. Mit Afghanistan war es ähnlich. Daraus ist aber nichts geworden. Die russische Seite hat auch ihr Vokabular. Vielleicht war dieses Ziel zunächst so vage formuliert, damit es künftig bei Verhandlungen einen Spielraum gibt.
Das betrifft jetzt die Forderung an die ukrainische Führung, die radikalen Nationalisten aus dem politischen Leben auszuschließen. In Mariupol hat man daneben zum Ziel, das ultranationalistische Batallion "Asow" auszuschalten, das die Stadt als Teil der Nationalgarde verteidigt. Ich weiß nicht, wie diese Forderung an die Ukraine also nach dem Ende der Kämpfe umgesetzt werden soll. Ich erwarte eher einen wachsenden Einfluss solcher Gruppen in der Region.
Sollte Russland von der ukrainischen Führung gewisse Zugeständnisse erhalten und den Donbass besetzen, wird es vielleicht anders sein. Ich mag mich irren, so wie ich mich schon mit der Wahrscheinlichkeit der Invasion geirrt habe. Alle waren schockiert. Wir hatten ja eine ähnliche Situation mit dem Truppenaufmarsch im April 2021, aber es war damals noch ein Trick für eine diplomatische Offensive.
Außerhalb des Donbass gibt es nur wenig prorussische Kräfte
Vielleicht waren Sie und Ihre Kollegen so schockiert, weil sie von Anfang an nicht glaubten, dass solch eine Invasion militärisch und politisch erfolgreich sein kann?
Wassili Kaschin: Militärisch wird sie schon mehr oder weniger Erfolg haben. In der Ukraine gibt es jedoch jenseits der Donbass-Republiken nur sehr wenige prorussische Kräfte, und es ist schwer für Moskau, sich nur auf sie zu stützen. Die Informationen, die wir gerade haben, sind sehr beschränkt. Man kann aber sagen, dass die Ziele der russischen Führung in der Ukraine nun auch enger umgrenzt sind, als am Anfang vermutet.
Andererseits: Der gesamte Abbruch der Beziehungen zur EU entspricht den Bestrebungen eines Teils der russischen Elite und sogar der russischen Gesellschaft. Die liberale Elite, die in Russland schon immer in Minderheit war, ist jetzt marginalisiert oder vertrieben worden. Also werden politische Ziele so oder so erreicht.
Man liest, dass man für militärische Offensivaktionen 3:1 überlegen sein sollte und die Gesamtzahl der russischen Truppen in der Ukraine unter der der Ukrainischen Armee liegt. Warum?
Wassili Kaschin: Das strategische Verhältnis 3:1 oder 6:1 gilt eher für die taktische Ebene der Kriegsführung auf einem bestimmten Gelände. Aktuell spielen andere Faktoren ihre Rolle, wie etwa die Überlegenheit Russlands in der Luft, die es der ukrainischen Seite nicht erlaubt, die eigenen Kräfte zu manövrieren. Der größte Teil der ukrainischen Armee ist jetzt in den Städten konzentriert und stützt sich zwar auf einige Hilfsformationen der lokalen Bevölkerung, doch auch ihre Festungen werden ganz oder teilweise von den russischen Kräften blockiert.
Diese russischen Kräfte sind kleiner als die in den Festungen. Wollen die Kräfte aus den Festungen raus, sind die russischen Luftstreitkräfte wieder da. Dadurch kann Russland seine Hauptressourcen auf die Beseitigung der ukrainischen Gruppierung im Donbass konzentrieren, die größte und kampfbereiteste Gruppierung der ukrainischen Truppen. Mariupol soll eingenommen werden, es gibt eine weitere Gruppierung im Norden des Donbass, die das russische Militär auch umzingeln will.
Ein langer Krieg würde die gesamte Region verwüsten.
Es wird auch berichtet, die Kampfmoral der Ukrainer sei höher, da sie ihr Land verteidigen. Glauben Sie, das hat etwas Reales, oder ist es der Wunsch der Verbündeten der Ukrainer?
Wassili Kaschin: Die Kampfmoral der Ukrainer ist so, wie sie sein sollte. Die ukrainische Armee, die die letzten acht Jahre im Donbass im realen Einsatz war, besteht größtenteils aus Vertragssoldaten. Die Armee verfügt über eine beträchtliche Menge schwerer Waffen aus der Sowjetzeit. Aus den 1980er-Jahren zwar, aber diese Waffen sind immer noch sehr wirksam. Die militärische Infrastruktur der Ukraine wurde nachweislich von der Nato finanziert. Die ukrainischen Soldaten fühlen sie sich nun wirksam von außen unterstützt und zeigen daher in den Kämpfen Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit.
Ich glaube nicht, dass irgendjemand in Moskau wirklich damit gerechnet hat, dass sie einfach flüchten würden, wie ein bedeutender Teil der irakischen Armee 2003, weil die Welt nichts für den Irak getan hatte. Aber selbst damals hatte es Wochen gebraucht, bis Bagdad erobert war. Das heißt, alles ist für die russische Armee eine schwierige Aufgabe.
Ich hoffe, dass eine Einigung bald kommt, weil beide Seiten, wie wir sehen, eine Bereitschaft zu einem langen Krieg demonstrieren. Es ist aber allgemein klar, dass ein jahrelanges Hinschleppen des Krieges katastrophale Folgen für Europa, die Ukraine und natürlich auch für Russland haben würde. Das würde die gesamte Region verwüsten. Das braucht niemand, auch wenn die aktuellen Verhandlungen eher zu scheitern scheinen.
In Deutschland wird über die Zerstörung ziviler Einrichtungen bei Kämpfen in großen Städten berichtet, auch die Zahl von Opfern unter der Bevölkerung wächst. Lassen sich zivile Opfer im Rahmen offensiver Aktionen überhaupt irgendwie verhindern oder wenigstens minimieren?
Wassili Kaschin: Erinnern Sie sich an die US-Angriffe im Irak 2003. Sie wurden von einer totalen Zerstörung der Städte begleitet, obwohl die Amerikaner ausschließlich hochpräzise Waffen verwendeten. Das heißt, die Erstürmung einer Stadt, die ernsthaft verteidigt wird, wird immer von schweren Zerstörungen und zivilen Opfern begleitet sein, daran führt kein Weg vorbei.
Es ist auch wichtig zu verstehen, dass Russland und die EU sich sozusagen offiziell zu Feinden erklärten und es die Stunde für Militärpropaganda ist. Man kann keine Objektivität beanspruchen. Ich habe bisher jedoch den Eindruck, dass die russische Seite einen direkten Sturm auf die Metropolen am liebsten vermeiden möchte, denn das wäre militärisch heikel und würde unglaublich viele Opfer mit sich bringen.
Es gibt keinen Grund, die zivile Opferzahl so zu steigern. Wenn die Verhandlungen weiterhin scheitern und die russische Seite sich entscheidet, auf dem gesamten Territorium der Ukraine militärisch zu handeln: Was bringt es denn, wenn alles zerstört wird? Die bisherigen zahlreichen Bombenangriffe auf die militärische Infrastruktur in der Ukraine deuten eher darauf hin, dass Moskau diese Infrastruktur nicht besetzen will.
Im Rahmen befristeter Waffenstillstandsvereinbarungen sollten mehrfach Fluchtkorridore für Zivilisten geschaffen werden. Häufig klappte die Flucht vor allem in Mariupol nicht und es gab gegenseitige Vorwürfe des Beschusses von Zivilisten. Warum sind solche Fluchtkorridore so schwer zu realisieren?
Wassili Kaschin: Wir wissen, dass das ukrainische Militär in Mariupol gegen die Öffnung eines Fluchtkorridors nach Russland ist. Andererseits befürchtet die russische Seite, dass das ukrainische Militär die Pausen bei der Öffnung von Korridoren für eigene Bewegung nutzen würden. Manchmal gibt es auch eine mangelnde Koordination. Solche Probleme gab es in den letzten acht Jahren ständig im Donbass. Seit 2015 zwar etwas seltener, aber es gab regelmäßige Artillerie-Duelle, unter denen die Zivilbevölkerung litt. Und im Prinzip hat niemand viel darauf geachtet.