Interview mit russischem Botschafter: Mein Fazit aus fast 500 Kommentaren
Hunderte Kommentare zu Interview mit Netschajew. Reaktionen könnten unterschiedlicher nicht sein. Was die Diskussion über Meinungskorridore und journalistische Haltung zeigt.
So ist das im Telepolis-Forum: Was die eine großartig findet, passt dem anderen überhaupt nicht. Deshalb will ich mich über die Kontroverse nach meinem Interview mit dem russischen Botschafter Sergej Netschajew auch nicht beklagen. Vielleicht aber doch den einen oder anderen Gedanken nachschieben, der mir beim Lesen der fast 500 Kommentare gekommen ist.
Los geht es mit der Frage, ob man den russischen Botschafter überhaupt "unzensiert" zu Wort kommen lassen darf. "Höchste Zeit, dass das passiert" und "Danke an den Interviewer und Telepolis für den Mut" ist im Forum ebenso zu lesen wie "Hofberichterstattung" und "Es lohnt nicht, mit Lügnern zu sprechen".
Ich finde: Es lohnt sich nicht nur, alle Seiten zu hören, sondern man muss es sogar. Nicht nur mit Blick auf Russland und die Ukraine, aber hier ganz besonders.
Mich hat der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen kürzlich nach einem Interview gefragt, ob ich ihm den extrem verengten Meinungskorridor bei diesem Thema erklären könne. Er habe so etwas in seiner langen politischen Laufbahn noch nie erlebt. Konnte ich nicht, finde aber, dass er recht hat. Meine Antwort darauf ist, den Meinungskorridor zu erweitern.
Warum dem Botschafter zuhören?
Was bringt es aber, einem Botschafter zuzuhören, der doch nur die Meinung der Regierung äußert, in deren Diensten er steht? Auch da gehen die Ansichten im Forum weit auseinander. Manche nehmen in seinen Aussagen eine "faktenbasierte Argumentation" wahr, an anderer Stelle heißt es, der Botschafter habe sich "mit seinen Lügen und Krokodilstränen bloßgestellt". Zeigt das nicht schon den Mehrwert des Interviews: Man hört zu und zieht daraus seine eigenen Schlüsse?
Reaktionen im Forum
Oder sollte der Interviewer doch härter nachfragen, dem Befragten nichts "durchgehen" lassen? Auch dazu gibt es im Forum pro & contra. Einer bedankt sich für "lösungsorientierten Journalismus", der versuche, "Brücken zu bauen". Ein anderer nennt das Interview "unterwürfig" und empfindet "fast physische Schmerzen" beim Lesen, vermisst kritische Nachfragen und "Haltung" beim Interviewer.
Welche Debatten hätten geführt werden können
Ja, ich hätte ein anderes Interview führen können, hätte bei den Stichworten Maidan und Butscha einhaken (in einem Forum-Beitrag wird auf den ukrainisch-kanadischen Politikwissenschaftler Ivan Katchanovski verwiesen, der dazu geforscht und viel Erhellendes geschrieben hat) oder mit dem Botschafter eine Völkerrechtsdebatte führen können.
Ob das an dieser Stelle neue Erkenntnisse gebracht hätte? Keine Ahnung. "Fehlende Haltung" nehme ich dagegen eher als Lob denn als Kritik zur Kenntnis. Haltung soll der Befragte zeigen, deshalb spreche ich ja mit ihm. Journalisten steht dafür die Rubrik "Kommentar" zur Verfügung. Leider kommt da gerade einiges durcheinander.