Ioannidis: Mehr als 500 Millionen sollen bereits mit Covid-19 infiziert gewesen sein
Nach einer im Bulletin der WHO veröffentlichten Metastudie liegt die Infektionssterblichkeit im Median bei nur 0,23 Prozent, sie fällt aber regional sehr unterschiedlich aus
Im Bulletin of the World Health Organization ist am 14. Oktober die neue Studie Infection fatality rate of COVID-19 inferred from seroprevalence data des bekannten Epidemiologen John Ioannidis von der Stanford University erschienen. Mit ihr versucht Ioannidis seine frühen Einschätzungen und Untersuchungen zur Coronaviruspandemie noch einmal zu untermauern. Nachdem er schon früh erklärt hatte, dass die Gefährlichkeit von Covid-19 überschätzt werde, weswegen Lockdowns nicht notwendig seien, wurde er zu einer prominenten Bezugsfigur für die Menschen, die die Corona-Maßnahmen für überzogen hielten, die Coronaviruspandemie mit einer normalen Grippewelle vergleichen oder alles gleich für eine interessengeleitete Erfindung hielten.
In seiner neuen Metastudie gibt es keine wirklichen neuen Erkenntnisse, aber die schon zuvor veröffentlichten Befunde werden auf gewisse Weise noch einmal bestätigt, also dass die Covid-19-Infektionssterblichkeit nicht sehr hoch ist und dass weit mehr Menschen bereits infiziert wurden, als aus den offiziellen Zahlen hervorgeht. Für seine neue Metastudie, die die Infektionssterblichkeit aus Untersuchungen zur Verbreitung von Antikörpern (Seroprävalenz) abschätzt, hat Ioannidis 61 Studien und 8 nationale Schätzungen für 51 Regionen/Länder analysiert.
Danach gibt es eine große Spanne der Seroprävalenz zwischen 0,02 und 53,4 Prozent, also zwischen keinen vorhandenen Antikörpern und der Hälfte der Bevölkerung, die mit dem Coronavirus infiziert war. Das spiegelt sich dann auch in der Infektionssterblichkeit, die zwischen 0 und 1,54 Prozent variiert. Der Median liegt bei 0,23 Prozent, aber es gibt große regionale Unterschiede, die mit dem Median nicht mehr zur Geltung kommen.
Wo die Mortalität unter dem globalen Durchschnitt liegt (118 Tode pro Million), ist die Infektionssterblichkeit mit 0,09 Prozent sehr gering. Sie steigt auf 0,2 Prozent in Regionen mit 118-500 Toten pro Million, was etwa dem Doppelten einer Grippewelle mit einer geschätzten IFR von 0,1 entspricht. In einer Region, in der es mehr als 500 Tote pro einer Million gibt, steigt die IFR schon auf 0,57 Prozent an. Bei Menschen unter 70 Jahren beträgt die IFR zwischen 0 und 0,31 Prozent, woraus Ioannidis einen Median von 0,05 Prozent berechnet, was aber wieder die Unterschiede des Risikos für Regionen/Bevölkerungsgruppen nicht berücksichtigt. Ioannidis konstatiert:
Die Infektionssterblichkeitsrate von Covid-19 kann substantiell in verschiedenen Regionen variieren, das kann Unterschiede in der Altersstruktur der Bevölkerung, einer Fallmischung aus infizierten und verstorbenen Patienten und andere Faktoren widerspiegeln. Die abgeleiteten Infektionssterblichkeitsraten tendieren dazu, viel niedriger als die Schätzungen zu sein, die früher gemacht wurden.
Die Mortalität hängt also von der Region und mitunter auch von Stadtteilen ab - in Asien und Afrika ist sie deutlich niedriger als in Europa, Lateinamerika und den USA - und vom Alter, aber auch von der Verfasstheit und den Praktiken des jeweiligen Gesundheitssystems, beispielsweise alte Menschen in Pflegeheime zu schicken. Menschen in Risikogebieten, die einer erhöhten Infektionssterblichkeit ausgesetzt sind, dürften kaum beruhigt sein, wenn die durchschnittliche globale Mortalität ähnlich oder geringer als eine Grippewelle ist.
Ioannidis weist selbst darauf hin, dass die von ihm analysierten Studien schwer vergleichbar sind und auch die Frage der tatsächlichen Repräsentativität besteht. Besonders gefährdete Gruppen wie die Alten in Pflegeheimen, Obdachlose, Gefängnisinsassen oder benachteiligte Minderheiten werden kaum einbezogen. Dazu kommt, dass mitunter nur eine sehr grobe Abschätzung stattfindet, beispielsweise schreibt er: " Whenever the number or proportion of COVID-19 deaths at age < 70 years was not provided in the paper, I retrieved the proportion of these deaths from situation reports of the relevant location. If I could not find this information for the specific location, I used a larger geographic area. For Brazil, the closest information that I found was from a news report.77 For Croatia, I retrieved data on age for 45/103 deaths through Wikipedia."
Nur 24 Studien erhoben überhaupt Anspruch auf Repräsentativität. Es wurden aber auch mehr Untersuchungen in Regionen/Ländern gemacht, in denen Covid-19 stärker gewütet hat: "Estimating a single infection fatality rate value for a whole country or state can be misleading, when there is often huge variation in the population mixing patterns and pockets of high or low mortality." Dazu kommt, dass nur wenige Studien alle drei Antikörper IgG, IgM und IgA untersucht haben.
Daraus eine Schätzung der Menschen abzuleiten, die bereits von Covid-19 infiziert wurden, ist schwierig. Die Seroprävalenz reicht denn auch von 0,002 bis 53,4 Prozent, im Slum von Mumbai bis 58 Prozent, in Brasilien von 0 bis 25 Prozent. Es kommt halt immer darauf an, wo und wer getestet wird. Und nicht jeder Infizierte entwickelt Antikörper, die überdies auch schnell wieder verschwinden können. Asymptomatisch Infizierte entwickeln keine oder nur wenige, schnell wieder verschwindende Antikörper. In den Untersuchungen wurden oft nur wenige Proben relativ zur Bevölkerung genommen, in Oise, Frankreich, beispielsweise 661 bei einer Bevölkerung von fast 6 Millionen, in New York waren es 2482 auf 9,2 Millionen Einwohner.
In Gangelt, einem Hotspot mit 12.597 Einwohnern nach einer Karnevalsveranstaltung im Februar, wurde bei einer repräsentativen Stichprobe eine Seroprävalenz von 15,5 Prozent (12,3 % bis 19,0 %) der Bevölkerung festgestellt. Das entspricht 1956 Personen. Die "Heinsberg-Studie" unter der Leitung von Prof. Dr. Hendrik Streeck von der Universität Bonn bestätigt die Ergebnisse von Ioannidis. Die IFR lag mit 7 Gestorbenen bei 0,37 Prozent. 20 Prozent der Einwohner könnten sich während des Ausbruchs infiziert haben. Würde man diese Zahl auf die Gesamtbevölkerung Deutschlands hochrechnen, hätte dies Anfang Mai bedeutet, dass zehnmal mehr Menschen infiziert als offiziell gemeldet waren. Aber es macht keinen Sinn, die Zahlen eines Hotspots auf das ganze Land umzulegen.
Trotz all dieser Einschränkungen geht Ioannidis davon aus, dass bis 12. September über 500 Millionen Menschen infiziert worden sein könnten, "weit mehr als die 29 Millionen positiv Getesteten".
In Deutschland gäbe es danach statt der 400.000 laborbestätigten COVID-19-Fälle um die 4 Millionen (was auch noch von einer Herdenimmunität weit entfernt wäre). Wenn wöchentlich in Deutschland etwa eine Million Menschen getestet werden, weiß man eben über die restlichen 81 Millionen nichts, weswegen die 7-Tage-Inzidienz von positiv Getesteten auf 100.000 Einwohner im Unterschied etwa zu den Todesfällen pro 100.000 Einwohner nur einen ungefähren Trend erkennen lässt. Er wird allerdings gespiegelt mit der Zunahme der Positivenrate bei den SARS-CoV-2-Testungen, deren Zahl seit 34. Woche zwar schwankt, aber in kleinerem Ausmaß. In der 34. Kalenderwoche lag die Positivenrate in Deutschland bei 0,84 Prozent, in der 42. Woche ist sie auf 3,62 angestiegen, also um mehr als das Vierfache.
In den meisten Regionen, so Ioannidis, gäbe es nur eine Infektionssterblichkeit von weniger als 0,2 Prozent. Daraus leitet er seine Empfehlung ab, dass mit "geeigneten, präzisen nicht-pharmakologischen Maßnehmen, die versuchen, die gefährdeten Bevölkerungsgruppen und Bedingungen zu schützen, die Infektionssterblichkeitsrate weiter gesenkt werden kann".
Das berücksichtigt eben nicht die von ihm selbst immer wieder angemerkte unterschiedliche Gefährdung von Ländern, Regionen oder Städten, zudem werden diese Maßnahmen ja auch in vielen Ländern eingesetzt, um einen erneuten Lockdown zu vermeiden - offenbar mit zweifelhaftem Erfolg. Sollte die hohe Seroprävalenz zutreffen, von der Ioannidis ausgeht, dann würden die bestätigten Infektionszahlen mitsamt der 7-Tage-Inzidenz wenig Aussagekraft besitzen. Es wären weitaus mehr Menschen infiziert, was den Anteil der schwer Erkrankten und Sterbenden im Durchschnitt nach unten drücken würde, was aber für bestimmte Regionen nicht zutreffen muss, wie eine gerade veröffentlichte Studie zur Übersterblichkeit in den USA deutlich macht.
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