Isländer stimmen für neue "crowd-sourcing"-Verfassung
Über 70 Prozent sind für die Vergesellschaftung der natürlichen Ressourcen
Nach ersten Hochrechnungen lag die Wahlbeteiligung deutlich höher als beim letzten Referendum. Rund 60 Prozent stimmten für die Ausarbeitung der Verfassung, die hinsichtlich der Bestimmungen zu Partizipation, Umweltschutz und Informationsfreiheit zu den modernsten der Welt gilt.
Am gestrigen Samstag wurden die Isländer an die Urne gebeten, um über die "crowd-sourcing"-Verfassung abzustimmen (Liquid Constitution). Sie konnten sechs Fragen mit Ja oder Nein beantworten (Direkte Demokratie: Modell Island, vorbildlich für Europa?). Eine ähnlich hohe Zustimmung wie die Verfassung an sich erhielt der Vorschlag, dass eine bestimme Prozentzahl der Wahlbeteiligten zu einem Thema ein Referendum erzwingen könne. Die meisten Ja-Stimmen gewann mit 70 bis 80 Prozent allerdings die Frage, ob Island, wie in dem Verfassungsentwurf vorgeschlagen, seine natürlichen Ressourcen vergesellschaften soll.
Das für Islands Demokratie erfreulichste Ergebnis sollte jedoch die Wahlbeteiligung sein: Diese lag durchschnittlich bei etwa 50 Prozent, und damit rund ein Drittel höher als beim letzten Referendum, in dem die Isländer über die Verfassungsräte abgestimmt hatten. Das enttäuschende Interesse der Isländer an der eigenen Politik stand der teilweise euphorischen Beobachtung des Landes durch ausländische Medien so stark gegenüber, dass eine Journalistin schrieb, Ausländer hätten scheinbar ein stärkeres Interesse daran als die Isländer.
Das Vertrauen der Isländer in die Politik hatte seinen Tiefstand erreicht, als die Premierministerin Johann Sigurdadottir angekündigt hatte, die mehr oder weniger von den Dänen übernommene Verfassung zu überarbeiten, nachdem durch den Zusammenbruch der Banken 2008 die eklatante Verflechtung von Politik und Finanzwesen offengelegt worden war. Lange Zeit sah es so aus, als würde auch das basisdemokratische Vorgehen bei der Erarbeitung einer neuen Verfassung via Facebook, Twitter und anderen Kanälen nichts an der Politikmüdigkeit der Isländer ändern.
So war es, der ausländischen Begeisterung zum Trotz, eine Zitterpartie, ob die Isländer die Politikverdrossenheit überwinden und zahlreich zur Wahl gehen würden, oder ob sich die Schlappe vom letzten Referendum wiederholen würde, bei dem gerade mal ein Drittel der Isländer an die Urne gegangen waren.
Zeitlich passend haben US-amerikanische Wissenschaftler vor kurzem eine Studie veröffentlicht, die Islands Verfassungsentwurf deutlich lobt: Der Entwurfsprozess sei "außerordentlich innovativ und partizipatorisch", so das Ergebnis der Wissenschaftler, er würde "einen wichtigen symbolischen Bruch mit der Vergangenheit" markieren und spiele eine Vorreiterrolle dabei, die öffentliche Partizipation in laufende Regierungsgeschäfte zu sichern.
Auch auf der Insel wurde kräftig die Werbetrommel gerührt: Der nationale Rundfunk RUV hat im Vorfeld jeden zur Abstimmung stehenden Punkt ausführlich erklärt. Um junge Menschen zu erreichen, hat der Rapper Erpur Eyvindarson grundlegende Fragen beantwortet. Darüber hinaus hat die eigens für diese Zweck im August gegründete Union für eine neue Verfassung mithilfe von Schauspielern, Musikern und anderen Prominenten für das Referendum geworben.
Das Ergebnis der Abstimmung bestätigt so nicht nur die neue Verfassung, sondern könnte auch bedeuten, dass es gelungen ist, durch die weitgehende Einbeziehung der Bürger in Entscheidungen den Vormarsch der Politikmüdigkeit zu stoppen. Entsprechend erfreut gibt sich ein Vertreter des Verfassungsrates gegenüber nationalen Medien: "Dies ist ein Grund zum Feiern", sagte Þorvaldur Gylfason . Neben der Zustimmung zur Verfassung begrüßt er auch die Wahlbeteiligung, die ähnlich hoch liege wie bei den meisten Volksabstimmungen in der Schweiz.
Allerdings ist das Referendum nicht bindend. Es ist jedoch zu erwarten, dass das Parlament bei dieser deutlichen Zustimmung dem Entwurf annehmen wird. Zur endgültigen Abstimmung soll er dann bei den Parlamentswahlen im kommenden Frühjahr stehen.