Islam und Porno liefern Klicks: Die Abwärtskurve des Monsieur Houellebecq

"Ich war jung und brauchte das Geld" kommt in seinem Fall gleich aus zwei Gründen nicht als Ausrede in Betracht: Michel Houellebecq. Foto: Fronteiras do Pensamento / CC-BY-SA-2.0

Nach islamfeindlichen Äußerungen und peinlichem Porno-Dreh: Wie lange hält die Kulturwelt ihrem Ziehkind die Treue? Über Skandalerzeugung als Strategie.

Radikaler Humanist, Zyniker, Frauenfeind, die Charakterisierungen sind schillernd genug und unterliegen der Routine der Selbstbestätigung. Zweifellos ist der Romancier, Lyriker und Essayist Michel Houellebecq mit seinen Werken ("Ausweitung der Kampfzone", "Elementarteilchen", "Unterwerfung") nicht leicht einzuordnen.

Wenig bekannt sind seine Essays, durchaus sinnreich als "Interventionen" tituliert; ein erster solcher Band beispielsweise erschien auf Deutsch 1999 unter dem Titel "Die Welt als Supermarkt". Man liest und staunt über die bestechende Schärfe einer Gegenwartsanalyse, die sich wie beiläufig in knappen Texten und Gesprächsprotokollen vergleichsweise moderat zu präsentieren weiß.

Geld und Sex, Verlierer und Frustrierte

Einige Beispiele. Den postmodernen Menschen charakterisiert Houellebecq in mehreren Aufsätzen und Gesprächen, die sein Essayband umfasst, u. a. mit Valère Staraselski, als atomisiertes Individuum in einem banalen Universum. Diese Zersprengten, so Houellebecqs Diktum, leben außerhalb jeder stützenden Kontinuität:

… Sie leben von Zeit zu Zeit. Nimmt man ihr Leben jedoch insgesamt, hat es weder Richtung noch Sinn.


Michel Houellebecq, Die Welt als Supermarkt

Ein fragmentiertes Dasein also. Mangelnde Kohärenz, Gleichgültigkeit und das Fehlen altruistischer Moral sind das Signum der Epoche. Der nur in Relikten vorhandenen menschlichen Existenz ist ein sinnhafter Kontext abhandengekommen. Das System produziert Verlierer und Frustrierte, macht Menschen zur Spielmasse anonymer Kräfte. Hoellebecq reduziert dieses "Leben" auf zwei Pole:

Gegenwärtig bewegen wir uns in einem zweidimensionalen System: dem der erotischen Attraktivität und dem des Geldes. Alles andere, das Glück und das Unglück der Leute, leitet sich daraus ab. (…)

Wir leben tatsächlich in einer simplen Gesellschaft, für deren komplette Beschreibung diese wenigen Sätze ausreichen.


Michel Houellebecq

Das brutale hierarchische Differenzierungssystem, das diesem Kosmos zugrunde liegt, lehnt Houellebecq nachdrücklich ab. Sein persönliches Statement liest sich ambitioniert menschenfreundlich: "Die einzige Überlegenheit, die ich anerkenne, ist die Güte." Das war, wie zuvor erwähnt, um die Jahrtausendwende (die Originalausgabe des Essaybandes Interventions erschien in Paris 1998, die deutschen Zitate folgen der 4. Auflage der Kölner DuMont-Ausgabe 2000).

Der Supermarkt als Paradies

Um es noch einmal festzuhalten: Hier finden sich Sätze von analytischer Schlagkraft, etwa wenn Houellebecq über die "unerbittliche Zwangsläufigkeit der Wirtschaft" räsoniert und zugleich den Politikern attestiert, "dass sie keine wirkliche Kontrolle über das Geschehen haben und immer weniger haben werden". Houellebecq weiter:

Die Politiker spüren das und verachten sich selbst. Wir wohnen einem betrügerischen, ungesunden, unheilvollen Spiel bei.


Michel Houellebecq

Den Supermarkt nennt Houellebecq das "wahre Paradies der Moderne": "Der Kampf hört an seiner Tür auf, die Armen beispielsweise betreten ihn nicht." Die Nachtklubs hingegen sieht er als die Hölle der Frustrierten, die an solchen Unorten Gelegenheit suchen, "sich Minute für Minute ihre eigene Erniedrigung vor Augen zu führen".

Der für den Kapitalismus typische Kampf um einen Platz in dieser vollkommen entfremdeten Gesellschaft ist bei Houellebecq stets gekoppelt an die sexuelle Sphäre, über die sich der Autor bekanntermaßen immer wieder auslässt. Im Mittelpunkt dieser spätkapitalistischen Sexwelt sieht Houellebecq die narzisstische Befriedigung, die "Trunkenheit der Eroberung", wie er sie nennt, die beim Porno-Konsumenten jedoch umschlägt in ein "geradezu entgegengesetztes Gefühl".

Gleichzeitig staunt man über die Sätze eines Humanisten, so zum Beispiel, wenn Houellebecq in den Gesprächen als feminin betrachtete Werte beschwört, "Selbstlosigkeit, Mitgefühl, Treue, Sanftheit"; er nennt sie auch "Werte einer höheren Kultur, deren völliges Verschwinden eine Tragödie wäre".

Was ist los mit Monsieur Houellebecq?

Nun die merkwürdigen Ereignisse, bei denen sich die Frage stellt: Was ist los mit Monsieur Houellebecq? Katapultiert er sich gerade ins literarische Abseits?

Manch einer staunt über diesen Pfad der Autoaggression, auf welchem der Provokateur Michel Houellebecq (nach unterschiedlichen Quellen Jahrgang 1956 oder 1958), Träger des Grand Prix National des Lettres, sich offensichtlich verrannt hat.

Das geht bei ihm, dem vielfach Preisgekrönten, stark in Richtung Dekonstruktion eines Mythos: 2019 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, im selben Jahr überreichte ihm der französische Staatschef Emmanuel Macron den Orden eines Ritters der Légion d'honneur (Orden der Ehrenlegion), die wichtigste Verdienstmedaille Frankreichs. Namhafte Medien kürten ihn zu einem Visionär und sprachen ihm gar prophetische Gaben zu.

Was liegt an? Kurz gesagt, die "Perfektion der Dummheit" (Houellebecq laut Le Figaro über sich selbst). Zuerst in Paris, dann in Amsterdam ließ sich der "Miraculix der Literatur" (NDR) auf ein abgefahrenes Projekt ein, nämlich sich beim Sex mit jungen Frauen filmen zu lassen, angeblich in Unwissenheit über die Tragweite der vertraglichen Abmachungen. Maßgeblich am Zustandekommen des Pornofilms "Kirac 27" beteiligt war der Niederländer Stefan Ruitenbeek, Chef des Künstlerkollektivs Kirac ("Keeping It Real Art Critics"), er fungiert im vorliegenden Fall als Produzent eines schlussendlich hochnotpeinlichen Machwerks.

Houellebecq, Pornostar

Im November 2022 kam es für die Ausführung des Vorhabens in den genannten Städten zu Treffen mit Prostituierten. Ein Trailer, der zeigt, wie Houellebecq mit nacktem Oberkörper auf einem Bett eine junge Frau küsst, wurde nach Intervention des Autors zurückgezogen, berichteten die Medien gleichermaßen in Kultur und Boulevard (hier: Kölner Stadt-Anzeiger, Panorama, 31. Mai 2023, "Pornostar aus Versehen").

Gemeinsam mit seiner chinesischstämmigen Frau Qianyum Lysis Li und unter Beteiligung junger Aktricen entstanden unter anderem Szenen, die angeblich – so Houellebecq - als nonkommerzieller Beitrag für eine Amateurpornoseite gedacht waren.

Produzent Ruitenbeek machte jedoch die Rechte an allen abgedrehten Szenen geltend. Es kam zum Streit. Mit schlechtem Ausgang für den Autor: Houellebecq verlor gleich zweimal vor Gericht, ein niederländisches Gericht erlaubte die Veröffentlichung des Films, dessen Start bis heute dennoch nicht erfolgte.

"Ich betrat wahrhaftig die Hölle", wird der Unterlegene in Presseberichten zitiert, wo er behauptet, hereingelegt worden zu sein. Er sei bei der Vertragsunterzeichnung depressiv und betrunken gewesen, so Houellebecq heute.

Entgleisung als Kalkül

Damit nicht genug. Zwei der beteiligten jungen Sex-Darstellerinnen nennt der keineswegs so unfreiwillige Pornostar im Nachhinein "die Sau" und "die Pute", wie aktuelle Presseberichte offenlegen; auffallend fiese Titulierungen, möchte man hinzufügen. Ruitenbeek beschimpft er als "Kakerlake".

Alles derzeit nur im französischen Original nachzulesen, in einem rund 100 Seiten dürftigen, man könnte sagen: nachgekarteten Pamphlet mit dem tagebuchartigen Titel: "Quelques mois dans ma vie" ("Einige Monate in meinem Leben", Oktober 2022 – März 2023).

Entgleisung als Kalkül: Vor gut einer Woche erschien das Buch in Frankreich und erregte, wie zu erwarten, die Gemüter. Houellebecqs französischer Verlag Flammarion ist bekannt dafür, die Werke seines Schützlings als politische Ereignisse zu inszenieren. Der deutsche Freitag sieht in einer Besprechung das dünnhäutige Werklein eher nicht als Tagebuch, sondern als "Making-of des Michel Houellebecq".

Houellebecqs deutscher Verlag stellt auf der Website einen Autor vor, der sich als Opfer generiert:

Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich ganz und gar wie der Gegenstand einer Tierdokumentation behandelt; es fällt mir schwer, diesen Augenblick zu vergessen.


https://www.dumont-buchverlag.de/buch/houellebecq-einige-monate-in-meinem-leben-9783832160982/

Nun ja, möchte man meinen, vielleicht lag 's an der schwachsinnigen Projektidee als solcher? Eine Gesprächsanfrage der ARD hat der französische Verlag Flammarion abgelehnt. Das deutsche Gemüt – noch nicht reif für die Eskapaden von Monsieur H.?

Stichwortgeber der Rechten

Natürlich ist es kein Einzelfall, dass ein Skandalautor und Egozentriker vom Rang eines Houellebecq mächtig Furore macht. Die Runde machten auch mehrfach schon seine islamfeindlichen Äußerungen, die ihm unter anderem den Vorwurf einbrachten, zum Religionshass anzustiften.

So nannte Houellebecq laut einem Interview 2001 in der Zeitschrift "Lire", einer der führenden französischen Literaturzeitschriften, den Islam die "beknackteste Religion überhaupt" (siehe dazu: Frankfurter Rundschau. 5. September 2001). Jüngst brachte er sich in einem Gespräch mit dem französischen Philosophen Michel Onfray in dessen Magazin "Front Populaire" erneut in Position – und in womöglich kalkulierte Bedrängnis – als Stichwortgeber der Rechten.

Houellebecq gibt hier zum Besten, dass er nicht glaube, dass die französische Bevölkerung ("die angestammten Franzosen, wie man sie heute nennt") sich wünsche, dass sich die Muslime im Land assimilieren, sondern "dass sie aufhören, sie (die Franzosen) zu bestehlen und anzugreifen". In seinem gerade erschienenen Büchlein "Quelques mois dans ma vie" entschuldigt sich Houellebecq, nennt seine Äußerungen "idiotisch" und rudert im Buch (auf 20 Seiten von 100) bei dem heiklen Thema zurück.

Unter anderem, so berichtete der Deutschlandfunk, hatte Houellebecq Anschläge als Reaktion auf unkontrollierte muslimische "Massenmigration" prognostiziert. Der Direktor der Großen Moschee in Paris, Chems-Eddine Haffiz, kündigte daraufhin an, Klage gegen den Schriftsteller einzureichen und begründete seine Entscheidung in der Zeitung Le Figaro: Die Anerkennung eines literarischen Genies oder eines anderen künstlerischen Talents, so Haffiz, sei kein Freifahrtschein für Beleidigungen oder die Verbreitung von Hass.

Da wird man Herrn Haffiz zustimmen. Zur Klage kam es nicht, ein überfälliger Dämpfer blieb aus.

Vorläufiges Resümee: Skandal als Strategie

Sexuelle Frustration erscheint bei Houellebecq als ein Leitmotiv der westlichen Konsumgesellschaft und gehört fraglos zum Markt der Selbstinszenierung.

Jedoch Houellebecqs eingeübte Pose als Post-Moralist, Seismograf einer obszönen Gesellschaft und Schwarzes Vorzeigeschaf des Kulturbetriebs ist zuletzt definitiv überzogen, seine Menschenverachtung obsessiv. Klar, sein greller Zynismus, sein verstörendes Potenzial und seine Eskapaden wurden immer wieder lobend erwähnt. Eskapaden, die bei aller Geneigtheit doch in Richtung Widerwärtigkeit abrutschen.

Das eingangs zitierte Bekenntnis des Essayisten von 1999 zur "Güte" erleidet einen dauerhaften Knacks.

Den Verlagen dürfte es recht sein. Skandale liefern Klicks. Die Leseindustrie weiß auch die Schande noch zu verwerten: Schließlich haben wir hier einen "Autor, mit dem sich viel Geld verdienen lässt", wie der Deutschlandfunk süffisant konstatiert.

Europa begehe kulturellen Selbstmord, soll Houellebecq zuletzt öfter gesagt haben. Wenn er da nicht (diesmal unbestritten) Recht behält. Möglicherweise ist der kulturelle Selbstmord des Meisters auch nur spöttische Strategie?

Pause für Houellebecq: Ich werde ihn von fürs Erste von meiner Leseliste nehmen. Punkt.