Islamistische Mode-Influencerinnen: Probier den Schleier!

Seite 2: Das Patriarchat hinter dem Kopftuch: Der Feminismus hat keine Chancen

Verhüllungsformen von Hijab über Abaya bis Burka sind Produkt einer spezifisch muslimischen Auffassung des Sexualtriebes. Westlich-demokratische Gesellschaften bereiten ihre Mitglieder über die Verinnerlichung von Verboten (z.B. Inzesttabu oder Strafbarkeit von sexualisierter Gewalt) auf die Zivilisierung sexueller Urenergien vor.

Gemeinschaften "in denen der Schleier getragen wird (...) greifen auf die Geschlechtertrennung für noch unverheiratete Frauen zurück, schreiben eine Kopfbedeckung oder ähnliche Maßnahmen vor, beispielsweise den Schleier", schrieb der US-amerikanische Ethnologe George Peter Murdock in seinem damals viel beachteten Grundlagenwerk "Social Structure" von 1949.

Entlang dieser unterschiedlichen Sexualitätsregulation stellte die marokkanische Feministin und Soziologin Fatima Mernissi in ihrem Werk "Beyond the Veil: Male-Female Dynamics in Modern Muslim Society" 1975 die These auf, dass westlichen Gesellschaften ein passives Frauenbild zu Grunde liege und islamische Gesellschaften von einem aktiven Frauenbild geprägt seien.

Jene Auffassung der Frau als aktiver Reiz für den männlichen Triebhaushalt, sei Ausgangspunkt dafür, dass weibliche Präsenz Männer vom Gottesdienst ablenken und fitna (arabisch zu dt.: "Unruhe", "Häresie") verursachen würden. Zu groß sei die Versuchung, es könne zina (arabisch zu dt.: "außerehelicher Sex") passieren.

Islamisch geprägte Ordnungen könnten derart stark von dieser Auffassung beeinflusst sein, dass die Koexistenz von einem Mann und einer Frau in einem Raum unmittelbar überwachende Augen der Community auf sich zieht und nicht selten mit der Überlieferung Mohammeds – "Ein Mann ist mit keiner Frau allein, ohne dass der Teufel nicht der Dritte wäre" - kommentiert wird.

Dieses Narrativ gepaart mit einem ehrkulturellen Dogma der vorehelichen Jungfräulichkeit ist das Fundament eines ganzen Registers an Präventions- und Sanktionsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung der weiblichen Reinheit.

Neben der familiären Einmischung in alle Lebensbereiche, die Kontrolle sozialer Kontakte, die genitale Verstümmelung von Frauen (FGM), Verheiratung von Kindern, die arrangierte Ehe oder Zwangsheirat ist das Kopftuch ein maßgebliches Instrument zur Tabuisierung der weiblichen Sexualität. Schon im vorpubertären Alter lernen Mädchen von muslimischen Eltern, dass ihr Geschlechtsteil "unrein" und ein Ort der Sünde sei.

Mädchen wird die Entdeckung des eigenen Körpers untersagt, sportliche Bewegung ab einem bestimmten Alter reduziert und gemischtgeschlechtliche Interaktion streng reglementiert. Wenngleich merken muslimische Mädchen, dass ihre Brüder keine Grenzen gesetzt bekommen und ganz im Gegenteil die männliche Beschneidung als Ritus zur Erlangung von Männlichkeit zelebriert wird.

Mit der Pubertät findet eine Zäsur in der Entwicklung von jungen Frauen statt. Aufgrund der Geschlechtsreife werden sie zur Gefahr für die Familie und so müssen neue Maßnahmen zum "Schutz" der "Unbeflecktheit" her. Ab der Adoleszenz setzt man muslimische Frauen unter Druck, mit einem Kopftuch "Reinheit" zu symbolisieren.

Spätestens mit dem Anlegen des Hijabs muss auch eine Veränderung im Habitus muslimischer Frauen einhergehen. Die von Abaya Sultan romantisierte #Hijabtransformation hat in der Lebensrealität von vielen Musliminnen abrupte Folgen für ihre Lebensführung. Verschleierte Frauen gelten als sittsam, bescheiden und schamhaft.

Von ihnen wird eine Zurückhaltung im öffentlichen Leben und das Meiden annähernd sexueller Anregungen verlangt. Diese Rollenerwartungen sind weit gefasst. Dazu gehört das Scheuen von Blickkontakt zum anderen Geschlecht, das Senken der Stimme, der Verzicht auf Sport oder Radfahren vor "männlichen Blicken" und das Verbot von Aufmerksamkeit erregenden klackernden Absätzen.

In Ländern mit Hijabgebot verlieren muslimische Frauen viel mehr als ihre Bekleidungsfreiheit. Frauen werden de facto und de jure als ein "halber Mensch" behandelt. Ihre Stimme gilt bei der politischen Wahl sowie in Zeugenaussagen vor der Justiz nur zur Hälfte. Und im Erbfall werden Frauen um den halben Anteil gegenüber einem Mann benachteiligt.

Auch im alltäglichen Sprachgebot muslimischer Gesellschaften ist von der mit nur einem "halben Kopf" ausgestatteten Frau die Rede. Ziel dieser Bevormundung ist es, Frauen rechtlich, finanziell und sozial von Männern abhängig zu machen. Weil Frauen in der Regel keine andere Wahl als dieses patriarchale Familiensicherungsnetz haben, stehen sie oft in der Sackgasse, diese Entrechtung vom Hijab bis zur häuslichen Gewalt zu ertragen.

Die Option des "Try on", die von Abaya Sultan demonstriert wird, steht somit innerhalb der traditionellen muslimischen Community überhaupt nicht zur Debatte. Einmal angelegte Kopftücher können nicht einfach wieder abgelegt werden.

Die mit dem Kopftuch markierte Segregation vom männlichen Gesellschaftsteil ist nicht folgenlos aufhebbar. Als "ehrbar" angesehene Frauen werden zur Schande der Familie, wenn sie ihr Kopftuch ablegen. Die Sanktionen der Community reichen vom Ausschluss bis in den schlimmsten Fällen zum Ehrenmord.

Die Reaktionen der islamischen Sittenpolizei im Iran auf "nicht anständig" sitzende Kopftücher, drastisch eskaliert im letzten Jahr durch den Tod der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam, deuten auf den perversen Dualismus aus "Überwachen" und "Strafen" hin, der sich hinter dem Hijab verbirgt. Manchmal reicht nur die kleinste Strähne aus, um innerhalb der Gemeinschaft nicht in Verruf zu geraten.

Obskur ist nebenbei auch, welches Männerbild hinter der Verhüllung von Frauen steckt, wonach die Wahrnehmung von Haaren bereits sexuelle Übergriffe "provozieren" könnten. Pointiert wird die patriarchale Ideologie des Kopftuches im islamistischen Propagandamaterial der Bonbon-Metapher, wie etwa auf einer Werbetafel in Teheran: "Eingepackte Fliegen halten Süßigkeiten fern, während geöffnete Bonbons Ungeziefer anziehen."

Untertitelt wird das Ganze mit "Schleier ist Sicherheit". Nicht Männer müssen demnach über Selbstkontrolle verfügen, sondern Frauen, indem sie sich verhüllen.

Eine Errungenschaft des Feminismus war es einst, die Verharmlosung von Vergewaltigungen in Form des sogenannten "Victim-Blaimings", ergo dem Opfer die Verantwortung für Übergriffe zu geben, zurückzuweisen. Im Hijab-Narrativ findet allerdings nichts anderes statt: Frauen wird die Schuld für sexuelle Grenzüberschreitungen gegeben.

Die Mullahs im Iran argumentieren, dass die Zwangsverschleierung vor sexueller Gewalt "schützen" soll. Ganz im Gegenteil - denn diese Rechnung geht nicht auf: Sexuelle Übergriffe im Öffentlichen und Privaten sind brutale Realität für Frauen unter islamischer Herrschaft.