Islamistische Mode-Influencerinnen: Probier den Schleier!
Seite 3: Soziale Erwartung, statt "freier Wille": Die Falle des Islamismus für junge Frauen
- Islamistische Mode-Influencerinnen: Probier den Schleier!
- Das Patriarchat hinter dem Kopftuch: Der Feminismus hat keine Chancen
- Soziale Erwartung, statt "freier Wille": Die Falle des Islamismus für junge Frauen
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Unter diesen Umständen des Zwangs kann selbstverständlich von keiner freien Entscheidung für das Kopftuch gesprochen werden. Denn auch in westlichen Migrationsländern herrscht ein gewisser sozialer Druck, der Mädchen und junge Frauen zum Anlegen des Kopftuches nötigt.
Die Kommentare "gorgeous" (dt.: "großartig"), "from neglected diamond to protected diamond" (dt.: "vom vernachlässigten Diamanten zum geschützten Diamanten" oder "mashallah" (dt.: "wie Allah wollte") sowie die Bezeichnung unverhüllter Frauen als "halbnackte Huren" in und unter den Videos von Abaya Sultan sollen eine Privilegierung verschleierter vor unverschleierten Frauen erzeugen.
Neben der frühen gesellschaftlichen Erwartung, sich ab der Geschlechtsreife zu verhüllen, erleben junge Frauen, dass mit dem Hijab eine Steigerung des Ansehens in der Community einhergeht. Insbesondere in der muslimischen Diaspora-Gemeinschaft stehen Familien unter besonderem Druck, ihre Töchter zur Sittsamkeit zur erziehen und aus Kulturverlustängsten repressive Sexualnormen aufrechtzuerhalten.
Weil im Migrationsland die Kontrollinstanzen der traditionellen Herkunftsgemeinschaft fehlen, können Überwachungspraxen wie das Kopftuch teilweise noch stärker verfolgt werden, um die Jungfräulichkeit weiblicher Familienmitglieder bis zur Ehe zu garantieren.
Darüber hinaus können fehlenden Integrationserwartungen sowie unklare Bleibeperspektiven eine Unsicherheit bestärken, wo der Islam mit seinen strengen Reglementierungen als Bewältigungsmechanismus leichtes Spiel hat.
So sind Fälle bekannt, wie geflüchtete Frauen aufgrund des Gefühls der Isolation den Hijab erst in Deutschland anlegten und somit vulnerable Zielscheiben für den muslimischen Gruppenzwang wurden. Unter diesem peer pressure kann von Freiwilligkeit keine Rede sein, denn die freie Wahl hätte eine unabhängige Ausgangslage und keinerlei Nachteile bei Ablehnung des Hijabs zur Voraussetzung.
Auffällig ist an der Marketing-Strategie von Abaya Sultan auch, dass ihre Zielgruppe maßgeblich aus jungen Frauen mit und ohne Migrationshintergrund besteht. In der Adoleszenz befinden sich Mädchen auf der Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit.
Gerade im Zeitalter der Individualisierung und des Selbstverwirklichungsdrucks leiden junge Frauen oft unter Selbstwertproblemen oder Ängsten, Schönheitsidealen nicht gerecht zu werden. Migrantisch-muslimische Mädchen sind konfrontiert mit Identitätskonflikten zwischen den Werten der Herkunfts- und Aufnahmekultur.
Nicht selten kommt es auch zu innerweiblicher Konkurrenz, um patriarchale Rollenanforderungen internalisiert durch Neid und Missgunst zu kompensieren. Die digitale Komplimentedusche für das Hijab-"Try on" von Abaya Sultan verleiht den jungen Frauen das Gefühl etwas Besonderes zu sein.
Der Exklusivitätscharackter der Ganzkörperverschleierung verschafft Selbstbewusstsein und symbolisiert, Teil einer bestimmten sozialen Gruppe zu sein. Zusätzlich verschaffe die Vollverschleierung eine Befreiung vom Stress des Körperkultes.
Die Rolle der sittsamen Muslimin könne in einer immer komplizierteren Welt mit unsicheren Zukunftsperspektiven sogar Orientierung spenden. Für Eltern konvertierter Töchter ist die Vollverschleierung ein Schock, womit junge Frauen in rebellischer Pose ihren Abnabelungsprozess bewerkstelligen können.
Muslimische Mädchen demonstrieren mit der Abaya "ihre Kultur nicht vergessen zu haben" und können sogar erhöhte Wertschätzung genießen, weil sie die sittlichen Werte der Community noch strenger einhalten als die Elterngeneration.
Das orthodoxe Befolgen moralischer Vorgaben des Islam und die Durchsetzung repressiver Rollenbilder ist eine der wenigen Möglichkeiten für muslimische Frauen, in dem patriarchalen System mehr Macht zu erlangen.
Demnach ist die Wirkmächtigkeit muslimischer Mütter in der Erziehung und die Rolle islamistischer Frauen in der Propagandaarbeit nicht zu unterschützen. Psychologisch kann somit von einem "sadomasochistischen Charakter" (Fromm, Erich 1977/1992) gesprochen werden.
"Sich selbst zu unterwerfen, um andere zu unterwerfen" scheint hier die Methode, um in der Hierarchie des Patriarchats eine Stufe hinaufzuklettern. Es kann als "Lust an der Unlust" bezeichnet werden, andere Frauen im nicht standesgemäßen Tragen des Hijabs zurechtzuweisen (wie Beamtinnen der Sittenpolizei im Iran) oder sich gegenüber unverschleierten Frauen emporzuheben sowie diese als "Huren" zu diskreditieren.
Im Hijab materialisiert sich nicht nur die Grenze der Geschlechter, sondern auch die Überlegenheit von "anständigen" gegenüber "unanständigen" Frauen. So lautet es bei Abaya Sultan in der Instagram-Bio: „Sei die beste Version von dir selbst – Modest.“ (dt. "bescheiden").
Für Emanzipation statt "falsche Freiheit" ohne Gleichberechtigung
An dieser Stelle kommt der Woke-Feminismus ins Spiel. Die oben beschriebene weibliche Selbstermächtigung in Form der Komplizenschaft mit dem patriarchalen System wird häufig als "Empowerment" stilisiert.
Die Exklusivität von "Hijabis" zelebriert man als besonders divers und die Abkehr von Schönheitsidealen wird als Akt der feministischen Subversion gelabelt. Tatsächlich ereignet sich hier allerdings eine Pervertierung ursprünglich feministischer Ideale: Statt sexueller Befreiung vollzieht sich eine Befreiung von der Sexualität.
Um den Anforderungen des Sexus im Selbstverwirklichungswettkampf auszuweichen, begnügen sich sog. islamische Feministinnen mit der "Freiheit unter dem Schleier" (frei nach Hübsch, Khola Maryam 2014; Autorin der islamistischen Ahmadiyya Sekte). Während die zweite Frauenbewegung für Emanzipation und Gleichberechtigung kämpfte, wird nun dem Patriarchat ein Bärendienst erwiesen und die Tabuisierung weiblicher Sexualität im Namen des Islam als postkolonialer Feminismus verkauft.
Die iranischen Feministinnen damals 1979 und in der Jin, Jiyan, Azadi-Revolution erfüllen eine Vorbildfunktion. Sie reißen die Kopftücher ab, skandieren "Keiner ist frei, sofern nicht alle frei sind" und demonstrieren mit ihren männlichen Genossen Hand in Hand für das Ende der Geschlechterapartheit.
Es geht dieser Bewegung mitnichten um die -wie im Westen oft als Projektion insistierte- selbstbestimmte Wahl für oder gegen das Kopftuch. Sie wissen ganz genau, dass sich im Kopftuch ein System aus Ehre, Scham und Schande manifestiert, das die Basis für die strukturelle Gewalt an Frauen ist.
Wenn das Kopftuch fällt, fällt das islamische Patriarchat. Westliche Demokratien und Frauenrechtsbewegungen können neues Vertrauen erlangen, wenn sie islamistische Organisationen wie Abaya Sultan innenpolitisch das Handwerk legen und außenpolitisch z.B. den iranischen Freiheitskampf unterstützen. Dies würde Mädchen und Frauen weltweit zu mehr Gleichberechtigung, sexueller Selbstentfaltung und individuellem Selbstwert ermutigen.
Moritz Fryczewski ist Erziehungswissenschaftler und arbeitet als Pädagoge für Gewaltschutz in der Flüchtlingssozialarbeit.
Den Gastbeitrag unterstützt hat die Gruppe "Free Iran Now Kassel", die für Pluralität eintritt und sich aufseiten der demokratisch-säkularen Opposition in Iran und im Ausland stellt.