Israel-Gaza-Krieg: Zweierlei Mensch
Im Kettengerassel der Panzer in Gaza stirbt Israels Selbstanspruch, in der Westbank regiert Faustrecht. Wieso ein jüdischer Soziologe von "Götzendienst" spricht. Ein Kommentar.
Nehmen wir uns einen Augenblick Zeit, zu verstehen, was UN-Generalsekretär António Guterres gemeint haben mag, als er vor versammeltem Haus angesichts der israelischen Bombardements auch den Westen an eine simple Tatsache erinnerte: Im Gazastreifen wohnen Palästinenser, also Menschen. Unterdrückte Menschen, oft als Menschen zweiter Klasse wahrgenommen, will heißen: nicht als richtige, vollwertige Menschen.
Mehr als eine Million dieser Geringwertigen irren, während diese Zeilen geschrieben werden, verloren im Gazastreifen herum – entrechtet, unbehaust, hungrig, verletzt, dem Tode nahe, verzweifelt. Eine weitere Million lebt mindestens in banger Erwartung der Dinge, die noch kommen. Tausende zählen bereits zu den Toten, die nie eine Stimme hatten; statistisch gerechnet – wenn überhaupt erfasst – fallen sie unter die Kollateralschäden der israelischen Selbstverteidigung.
Die Berkeley-Professorin Judith Butler beschäftigt sich schon lange mit dem "lebenswerten Leben", das heißt auch: dem Framing, das über Sein und Nichtsein entscheidet. Dazu fand sie auch in der aktuellen Situation klare Worte.
Den Palästinensern Menschenwürde zuzusprechen, ist nötig, so wollen wir das hier verstehen: als Ausdruck des Humanums, jener existenziellen Wesensgleichheit, auf der das Menschenbild gemäß dem ideellen westlichen Selbstverständnis beruht.
Noch einmal: Im Gazastreifen hausen nicht nur Fanatiker, es wohnen dort Menschen. Die bewaffneten Kräfte der Hamas, von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft, sind medial bereits guillotiniert; von ihnen handelt dieser Artikel nicht.
Spielmasse brutaler Unpolitik
Die anderen – wir sprechen von mehr als zwei Millionen Palästinensern im Gazastreifen, zu 60 Prozent unter 25 Jahren – was auch bedeutet, dass die Mehrheit dort gar nicht die Hamas gewählt haben kann, weil sie bei den lange zurückliegenden letzten Wahlen entweder noch nicht geboren war oder noch kein Stimmrecht hatte. All diese Menschen sind Spielmasse brutaler Unpolitik.
Vor bald 18 Jahren – am 25. Januar 2006 gewann die islamistische Hamas die Wahlen in Palästina, im Jahr darauf übernahm sie die vollständige Kontrolle über das Leben der Menschen im Gazastreifen.
Mehr als 80 Prozent dieser Bevölkerung lebt in Armut, mehr als 45 Prozent waren im vergangenen Jahr erwerbslos – eine traurige Rekordmarke. Hunderttausende sind auf direkte Lebensmittel-Zuwendungen angewiesen, die Wohnverhältnisse waren teils schon vor den aktuellen Bombardements katastrophal, der Alltag von Unsicherheit und Frustration bestimmt.
Alle 15 Minuten starb bis Mitte Oktober ein Kind als Folge israelischer Vergeltung, wie die Kinderschutzorganisation Save the Children mitgeteilt hat. Der Staat Israel steht für dieses doppelte Spiel, diese Art despotischer Unaufrichtigkeit, die an Machiavellis Devise erinnert, dass zum Zweck des Staatserhalts alles erlaubt ist. Westliche Staaten gehen seit Jahrzehnten mit dieser Denkweise konform.
Niccolò Machiavelli (1469 bis 1527) löste die Politik am Ausgangspunkt der Moderne von moralischen und religiösen Grundsätzen: Der Fürst (Il Principe) muss halb Tier, halb Mensch sein, Gewalt und List im Namen der Staatsräson sind notwendige Mittel der Politik (necessitá). Der unbedingte Nutzen geht vor "Nebensächlichkeiten", wie zum Beispiel Bedenken moralischer Art.
Das Nonplusultra des neuzeitlichen Fürsten lautet: Erhalt und Stabilität des Staates (virtú). Israels Premier Benjamin Netanjahu zeigt sich somit als Machiavellist par excellence.
In seiner Praxis werden die proklamierten Werte des "lokalen Judentums", wie es der israelische Soziologe Natan Sznaider nennt, untergraben. Die historische Erfahrung des Holocaust wird geltend gemacht gegen Dritte, die nicht an diesem Vernichtungsversuch beteiligt waren – und droht so nicht nur, jede ehrliche Debatte im Ansatz zu ersticken, sondern stellt auch die Gleichwertigkeit ziviler Menschenleben in Frage.
Der Staat als Götze
Wir führen eine Stimme aus dem "eigenen" Lager an. Der jüdisch-israelische Soziologe Natan Sznaider, Professor em. am Academic College of Tel Aviv-Yaffo, schrieb im Frühjahr diesen Jahres:
Mit der politischen Kontrolle der Gerichte versuchen die neuen Herren des Landes (damit ist Netanjahus Bündnis mit religiösen Zionisten und Ultraorthodoxen angesprochen) auch die alten prophetischen Stimmen zum Schweigen zu bringen. Indem sie eine neue Form des lokalen Judentums entwickeln, das keine Einschränkungen der Souveränität anerkennen will, leisten sie einen Götzendienst mit dem Staat und entfernen sich von den eigenen jüdischen Traditionen.
Natan Sznaider: Israel im Frühjahr 2023. In: APuZ 18–19/2023, S. 8
Wohlgemerkt: Zum Zeitpunkt dieser Äußerung (im Mai 2023) konnte niemand die erneute Eskalation seit den Massakern der Hamas am 7. Oktober vorhersehen. Offenbar sah Sznaider aber Gründe, so zu formulieren, wie er es tat; die "neuen Herren" sind maßgeblicher Bestandteil der Herleitung, der Autor erinnert an das Kapern der israelischen Gerichtsbarkeit; ein politischer Eklat erster Güte, der Hunderttausende auf die Straße trieb. Schon vergessen? Unterm Geräuschpegel der Panzer vermutlich ja.
Das Terrain mit dem Namen "Gaza-Strip" entlang des 45 Kilometer langen Küstenstreifens ist kleiner als das deutsche Bundesland Bremen. Alles, was hier passiert, betrifft eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Erde. Die gesamte Grenze zu Israel ist von einer Sperranlage mit Überwachungstürmen (Observation Tower) eingefasst, mit einer 100 Meter breiten "No-go area" (strikte Sperrzone) und der anschließenden, bis zu 300 m breiten "Restricted area", innerhalb derer nur Landarbeiter erlaubt sind.
Den Gaza-Streifen via Israel kann nur verlassen, wer eine Ausnahmegenehmigung vorweisen kann – das gilt etwa für Tagelöhner, Geschäftsleute, medizinische Patienten und ihre Begleiter sowie Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.
Wir erinnern uns: Il Principe ("Der Fürst", gedruckt 1531/32) muss halb Tier, halb Mensch sein, zudem in den Praktiken der Verstellung und Täuschung ein Meister, um die Macht zu erlangen und zu behalten. Um den Frieden zu sichern, soll er ununterbrochen Krieg führen; der Krieg als staatstragendes Perpetuum Mobile.
"Gottgegeben": Faustrecht in der Westbank
Die territoriale und selbstredend die politische Verfasstheit von Gaza ist eine offene Frage. Sicherheitsvereinbarungen, Gebietsvereinbarungen – Makulatur. Der Politikwissenschaftler Markus Keim von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) verwies im ARD-Weltspiegel (29.10.2023) auf die Westbank, wo 450.000 jüdische Siedler leben; noch einmal rund 230.000 in Ost-Jerusalem.
Der Kölner Stadt-Anzeiger beschrieb in einer Reportage am 24. Oktober das Schicksal der Palästinenser, die dort – im Schatten der Gaza-Ereignisse – um ihre Existenz und ihr Leben bangen müssen. (Thema des Tages: Can Merey: Leben ohne Land. Ein Ortsbesuch in At-Tuwani, wo Palästinenser von ihren Feldern vertrieben werden, KStA, 24. 10. 2023)
Die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem, so das Blatt, kritisiert, "Israel nutze den Krieg zynisch aus, um seine politische Agenda der Landnahme im Westjordanland voranzutreiben". Oft seien Soldaten, aber auch Zivilisten an den Aktionen beteiligt.
Zwischen dem 7. und dem 19. Oktober seien mehr als 550 Palästinenser:innen vertrieben worden; mindestens 69 Palästinenser/Innen sind demzufolge im von Israel besetzten Westjordanland seit dem 7. Oktober getötet worden, darunter 15 Kinder und eine Frau. Israelis hielten es "für ihr gottgegebenes Recht, sich dort niederzulassen".