Israel-Krieg: Waffenstillstand würde Leben retten – auch die der Geiseln
Die Hamas versucht sich nach Geiselnahme herauszureden. Das bietet eine Chance. Doch eine Militärdoktrin gefährdet das Leben der Verschleppten. Ein Kommentar.
Israels unerbittliche Bombardierung des Gazastreifens ist eine Krise innerhalb einer Krise: Dazu trägt der Umstand bei, dass nach wie vor viele Geiseln, darunter auch US-Bürger, in dem Kriegsgebiet befinden, wo sie gefangen gehalten werden.
Nach jüngsten israelischen Schätzungen halten die Hamas und andere palästinensische Gruppen nach ihrem Angriff auf den Süden Israels noch 199 Gefangene fest. Diese Zahl umfasst sowohl Gefangene (Soldaten der israelischen Streitkräfte) als auch Geiseln (Zivilisten, darunter Kinder und ältere Menschen).
Die Hamas behauptet, bei israelischen Luftangriffen seien bereits 22 Geiseln und Gefangene im Gazastreifen getötet worden, darunter auch Ausländer.
Nachrichtenagenturen haben diese Behauptungen nicht unabhängig überprüft. Israel hat sie bestritten und sie als "Lügen" der Hamas bezeichnet.
Unter den Gefangenen im Gazastreifen befinden sich bis zu 14 US-Bürger. Hinzu kommen rund 500 palästinensische US-Amerikaner, die in dem belagerten Streifen leben und den gleichen Schutz verdienen.
Ein Sprecher des militärischen Flügels der Hamas, der Al-Qassam-Brigaden, erklärte am Montag in einer Videoerklärung, dass die Hamas Geiseln mit ausländischer Staatsbürgerschaft freilassen werde, wenn sich "vor Ort die Gelegenheit ergibt".
Diese Aussagen tätigte der stellvertretende Hamas-Chefs Saleh al-Arouri in einem ausführlichen Interview mit Al Jazeera, in dem er versuchte, sich im Namen der offiziell von der Entführung ziviler Geiseln zu distanzieren.
"Nach der Durchbrechung des Zauns und dem Zusammenbruch der IDF in weniger als drei Stunden überquerten palästinensische Zivilisten und andere bewaffnete Gruppen den Zaun von Gaza aus, was zu einem Chaos führte, das wir nicht geplant hatten", sagte er.
Arouri behauptete, dass die Hamas nur israelische Soldaten als Kriegsgefangene genommen habe und dass es andere palästinensische Gruppen und sogar palästinensische Zivilisten gewesen seien, die Zivilisten als Geiseln genommen hätten, nachdem die Mauer durchbrochen worden sei.
Das Videobeweismaterial zeigt zwar, dass Arouris Behauptung, er habe keine Zivilisten als Geiseln genommen, falsch ist, doch lassen seine Äußerungen darauf schließen, dass die Hamas eine politische Rechtfertigung für die rasche Freilassung aller Geiseln sucht.
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Ebenso bedeutsam sind die Erklärungen des Irans zu den Geiseln. Das iranische Außenministerium ließ am Montag verlautbaren, die Hamas sei "bereit", ihre Geiseln freizulassen, wenn Israel die Luftangriffe im Gazastreifen einstelle.
Als der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian letzte Woche über die Vereinten Nationen eine Botschaft an Israel sandte, konzentrierten sich die meisten Medienberichte auf die Drohung des Irans an Israel, in den Konflikt einzugreifen.
Der eigentliche Aufmacher war jedoch, dass Abdollahian auch anbot, einen Deal für die Freilassung der zivilen Geiseln im Gazastreifen zu vermitteln. Der Iran hat Einfluss auf die Hamas, wenn auch weniger, als oft angenommen wird.
Freilassung von Geiseln und Gefangenenaustausch
Es gibt also mehr Anzeichen dafür, dass ein Waffenstillstand die Freilassung dieser zivilen Geiseln beschleunigen könnte. Die komplexere Aufgabe ist ein Gefangenenaustausch – der Austausch von festgesetzten IDF-Soldaten gegen Palästinenser in israelischen Gefängnissen.
Die Hamas hat angedeutet, dass sie die von ihr gefangen gehaltenen israelischen Soldaten für einen Deal nutzen will, um die Tausenden von palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen freizubekommen, von denen 1.123 politische Gefangene sind, die nach den israelischen Gesetzen der "Verwaltungshaft" ohne Anklage oder Prozess festgehalten werden.
Unter diesen Gefangenen befinden sich 160 Kinder unter 18 Jahren.
Was für US-Bürger alarmierend sein sollte, ist Israels umstrittene sogenannte Hannibal-Doktrin. Dieses umstrittene Protokoll erlaubt die Anwendung tödlicher Gewalt bei dem Versuch, gefangene israelische Soldaten zu befreien, selbst wenn dadurch das Leben von Geiseln oder Kriegsgefangenen in der Nähe gefährdet wird.
Für US-amerikanische Staatsbürger, die sich unter den Geiseln befinden, stellt dies eine klare und unmittelbare Gefahr dar. Nach dieser Doktrin kann das israelische Militär theoretisch die Tötung US-amerikanischer Geiseln (und anderer Zivilisten) bei ihren Bemühungen um die Befreiung gefangener IDF-Soldaten rechtfertigen.
Dies mag zwar mit den militärischen Zielen Israels übereinstimmen, missachtet aber eklatant die Sicherheit und das Wohlergehen US-amerikanischer Bürger und anderer Zivilisten, die in den Konflikt verwickelt sind.
Die US-Regierung sollte die Hannibal-Doktrin des israelischen Militärs kategorisch ablehnen, wenn US-amerikanische Leben auf dem Spiel stehen.
Sie sollte unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit aller US-amerikanischen Bürger in Gaza zu schützen, einschließlich der Geiseln und der Hunderte von palästinensischen Amerikanern, die nicht entkommen können, da die Grenzübergänge nach Israel und Ägypten abgeriegelt sind. Hier geht es nicht nur um Geiseln, sondern um die Achtung des menschlichen Lebens über Grenzen hinweg.
Stattdessen hat die Biden-Regierung Israel grünes Licht für etwas gegeben, das einer kollektiven Bestrafung der gesamten Bevölkerung von Gaza gleichkommt. Unter denjenigen, die unter Israels "vollständiger Belagerung" leiden, sind auch US-Bürger sowie andere ausländische Staatsangehörige, die als Geiseln gehalten werden oder dort leben.
Anstatt Israel blindlings zu unterstützen, das den Gazastreifen mit Luftangriffen verwüstet und eine Bodeninvasion vorbereitet, die das Leben der Geiseln gefährdet, ist ein Waffenstillstand dringend erforderlich, und zwar nicht nur zur Rettung der Geiseln.
Ein solcher Waffenstillstand würde die Versorgung des Gazastreifens mit lebenswichtigen Gütern und humanitärer Hilfe ermöglichen und eine Atempause bieten, um die Verwundeten zu behandeln und die Toten zu betrauern - annähernd 3.000 Palästinenser, darunter mehr als 1.000 Kinder.
Vielleicht könnte ein Waffenstillstand auch als kollektive Pause dienen und alle Parteien, einschließlich der USA, dazu zwingen, die verfehlte Politik, die zu dieser Gewalt und der unhaltbaren Situation nicht nur in Gaza, sondern in ganz Israel und Palästina geführt hat, zu überdenken.
Der Text erschien zuerst auf Englisch bei unserem US-Partnerportal Common Dreams.