Israel, Palästina und die arabische Welt: Gaza als Brutstätte für Militanz

Seite 2: Hauptvorwurf: Doppelstandards

Bei einem offiziellen Besuch im Jemen im Mai 2002 spreche ich außerhalb des Protokolls meinen direkten Counterpart an, einen smarten, in westlichem Stil gekleideten Mann:

"Stimmt es, dass die Hamas im Jemen besonders viel Geld sammelt?"

"Wir sind das Kernland Arabiens. Alle kommen gern. Sie auch. Und alle guten Muslime geben Almosen, wie der Koran es verlangt."

"Wenn die Hamas auf dieses Geld angewiesen ist, können Sie dann nicht darauf drängen, dass sie die Selbstmordattentate einstellt?"

"Wir haben keinen Einfluss darauf."

"Können Sie nicht wenigstens darauf drängen, dass sich die Hamas auf militärische Ziele beschränkt?!"

"Würde Europa Hamas dann wertschätzen?"

"Das nicht, aber die Palästinenser würden nicht alle Sympathien verspielen."

"Warum fordert ihr nicht von Israel, die besetzten Gebiete zu räumen?"

"Wir Deutsch…"

"Wir mögen euch Deutsche, wir verstehen uns gut. Aber ihr müsst wieder selbstbewusster werden." "Wir haben eine besondere Verantwortung…"

"Wir auch…"

Der Hauptvorwurf der Araber an die westliche Welt lautet: "Ihr habt doppelte Standards. Ihr setzt die Regeln, die ihr aufstellt, nicht gleichermaßen gegenüber allen durch." Zielscheibe der Kritik sind vor allem die USA, aber auch wir Europäer kommen nicht ungeschoren davon, weil wir den USA nicht genügend eigenes Profil entgegensetzten.

Atomare Rüstung in der arabischen Welt werde bekämpft – das Atomwaffenarsenal Israels toleriert. Antisemitismus werde angeprangert, die Vertreibung der Palästinenser aber hingenommen. Ein Staat Israel werde anerkannt, das Staatenbildungsrecht der Palästinenser unterlaufen. Ganz von der Hand zu weisen ist diese Kritik nicht.

Lippenbekenntnisse zum Frieden und Kollekte für die Hamas

Doch auch die Araber haben ihre doppelten Standards: Immer wieder betonen sie gegenüber ihren Kritikern, der Islam sei eine Friedensreligion; doch nach den Freitagsgebeten sammeln sie Geld für die Hamas.

Auf einem "Barcelona-Treffen" der Anrainerstaaten des Mittelmeeres stand ich mit Uri Avnery, der für Israel den Dialog suchte, zusammen. Wir waren uns einig: Mit ihren Despotien hielten die arabischen Potentaten Völker zusammen, die von den Kolonialmächten, ohne gefragt zu werden, in einen gemeinsamen Staat zusammengepfercht worden waren.

Nicht alles, was zusammenkam, gehörte zusammen. Die Despoten hielten die Fiktion aufrecht, die ehemaligen Kolonien könnten nach Gewinn der Souveränität als Nationen in denselben Grenzen weiterleben. Die Fiktion trug zur Sicherheit bei, auch für Israel, wenn auch zu einer trügerischen.

Was würde geschehen, wenn Zentrifugalkräfte die Staaten auseinanderrissen? Die Umwälzungen in der arabischen Welt machen deutlich, dass Machtverschiebungen zugleich Destabilisierung und regionale Unsicherheit bedeuten können.

Ende der 1980er-Jahre gab es Visionäre für den Nahen Osten. Shimon Peres und Jassir Arafat hatten beide dieselbe Idee. Israel, Palästina und Jordanien sollten, wie die Beneluxländer, eng zusammenarbeiten, den Kern einer integrierten Wirtschaftsregion Nahost bilden. Das war ein faszinierendes Entwicklungsmodell. Wenn man hierhin doch wieder zurückkommen könnte!

Es gibt Kräfte in beiden Lagern, die dies wollen. Die sogar den Lagerbegriff aufgelöst haben. In Genf haben sie am 1. Dezember 2003 eine gemeinsame Initiative begründet, friedenswillige Israelis und friedenswillige Palästinenser. Sie sind alle Streitfragen durchgegangen und haben für jedes einzelne Problem eine Lösung erarbeitet. Friede wäre möglich. Ein Verhandlungsfriede auf der Basis eines gerechten Interessenausgleichs.

Aber warum hat die "Genfer Initiative", getragen vom ehemaligen israelischen Justizminister Jossi Beilin und dem palästinensischen Informationsminister Jassir Abed Rabbo, so wenig Unterstützung bekommen?

Auch die "rot-grüne" Bundesregierung reagierte nur halbherzig, als ich sie 2004 im Namen der Koalitionsfraktionen in den Bundestag einbrachte, wo sie mehrheitlich begrüßt wurde. Sie war kein Gegenmodell zur "Road Map" der internationalen Gemeinschaft, sondern eine konkrete Ausgestaltung.

Zu viele Hardliner stehen dagegen, die ihr innenpolitisches Gewicht in gleichermaßen korrupten Gesellschaften aus der Feindschaft mit dem Nachbarn ableiten. Vielen ist die Gefahr zu groß, dass die Verständigung mit der anderen Seite so gravierende Brüche auf der eigenen provoziert, dass es zum Bürgerkrieg kommt. Im einen wie im anderen Land.

Lieber Krieg zwischen den Staaten und Frieden im Inneren als zwischenstaatlicher Friede und Bürgerkrieg im eigenen Land. Für die Welt aber und für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist dies keine Lösung.

Ludger Volmer (Bündnis 90/Die Grünen) war von 1998 bis 2002 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Dieser Artikel basiert auf einem Kapitel aus seinem Buch "Kriegsgeschrei und die Tücken der deutschen Außenpolitik", (Europa Verlag München, 2013. Im Handel vergriffen; Restexemplare beim Autor erhältlich)