Israels Regierung vor dem Zusammenbruch
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Nach den schwersten Kämpfen in und um den Gazastreifen herum steht das Land vor Neuwahlen
Martialisch, das Gesicht grimmig-entschlossen, stand Jahya Sinwar auf der Bühne, vor sich Hunderte von Anhängern der Hamas; "die nächste Welle der Raketen wird Tel Aviv und seine Umgebung treffen", rief er ins Mikrofon, nachdem der Chef der radikalislamischen Organisation im Gazastreifen eine Pistole samt Schalldämpfer gezogen hatte: Sie habe einem der israelischen Soldaten gehört, die die Essedin-al-Kassam-Brigaden Anfang der vergangenen Woche im Gazastreifen entdeckt hatten:
Was hat sich die israelische Regierung gedacht, als sie Treibstoff und Geld aus Katar hereingelassen hat? Dass wir unser Blut für Diesel und Dollar verkaufen? Sie sind enttäuscht worden; ihre Ziele wurden nicht erreicht.
Jahya Sinwar, Hamas
Ganz vorne standen Mitarbeiter des ägyptischen Geheimdienstes, die Gesichter verdeckt hinter dunklen Sonnenbrillen: Seit Monaten versuchen sie, im Auftrag der ägyptischen Regierung Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel, der Hamas und dem Islamischen Dschihad auszuhandeln, mit mal mehr, mal weniger Erfolg.
Und trotz der martialischen Rede Sinwars und dessen Drohungen gegen Israel lässt ein Sprecher des ägyptischen Präsidenten Abdelfattah al-Sisi keinen Zweifel daran, dass man die Lage an diesem Wochenende als Erfolg, "als den besten Erfolg, den wir in einer schlechten Situation haben können", betrachtet.
Gaza: Trügerische Ruhe
Denn es blieb ruhig, es wurden keine Raketen auf Israel abgefeuert, und auch Israels Militär verzichtete auf Angriffe gegen Ziele im Gazastreifen. Auch die gut 8.000 palästinensischen Demonstranten, die am Freitag am Grenzzaun zusammengekommen waren, hielten dieses Mal gebührenden Abstand zum Zaun. In den vergangenen Monaten hatten israelische Soldaten immer wieder das Feuer auf Palästinenser eröffnet, die bei solchen Protesten dem Zaun zu nahe kamen.
Doch diese Ruhe ist trügerisch. Selten zuvor war die Lage so kompliziert. Obwohl der letzte Krieg zwischen Israel und der Hamas nun schon vier Jahre zurückliegt, die internationale Gemeinschaft auf Geberkonferenzen immer wieder Milliardensummen für den Wiederaufbau ausgelobt hatte, ist alles viel schlimmer geworden. Versprochene Gelder wurden nicht überwiesen und das auch, weil Funktionäre der Hamas und anderer Gruppen immer wieder Gelder und Güter veruntreuen.
Viele Wohngebäude sind nach wie vor nur notdürftig repariert, Straßen, Strom-, Wasserleitungen und Kanalisation sind marode; es herrscht tiefe Armut - eine Situation, die mehrere Ursachen hat: Zum einen ist da die Blockade des Landstrichs durch Israel und Ägypten; alle Ein- und Ausfuhren werden akribisch kontrolliert.
Zum anderen ist da aber auch die palästinensische Regierung in Ramallah im Westjordanland, die gerne die Kontrolle über den Gazastreifen zurückerlangen würde, und deshalb eine eigene Art von Blockade über Gaza verhängt hat.
Massive Verschlechterung der Lage
Obwohl die Hamas 2007 nach bürgerkriegsähnlichen Zuständen die Macht in Gaza übernommen hatte, bezahlte die von der Fatah dominierte Ramallah-Regierung jahrelang die Strom- und Treibstofflieferungen durch israelische Versorger, bis man die Praxis dann Ende vergangenen Jahres beendete und auch damit begann, an den Übergängen in den Gazastreifen das sogenannte "Pariser Protokoll", ein Wirtschaftsabkommen zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde, durchzusetzen: Seitdem erheben Beamte der Ramallah-Regierung dort auf Einfuhren Zölle und Steuern, welche die Waren in Gaza weiter verteuern.
Damit hat sich die Lage in Gaza massiv verschlechtert und ist der Druck auf die Hamas gestiegen, während vor allem der kleine, aber radikalere Islamische Dschihad verstärkt aktiv wird, Raketen auf Israel abfeuert und gegen die Hamas wettert, der man Versagen vorwirft. Israels Regierung, aber auch die Hamas werfen den Revolutionsgarden im Iran vor, den Islamischen Dschihad zu verstärkten Aktivitäten anzustacheln.
Der palästinensische Islamische Dschihad war Anfang der 80er Jahre entstanden, nachdem sich palästinensische Mitglieder der ägyptischen Muslimbruderschaft der revolutionären Ideologie Ajatollah Ruhollah Khomeinis verschrieben hatten.
Die Hamas-Führung versucht deshalb schon seit Monaten, sich als Volksbewegung zu präsentieren und Stärke zu zeigen, indem man zu wöchentlichen Massenprotesten aufruft. Man versuchte Israels Regierung durch Ballons und Winddrachen, an denen Brandsätze befestigt sind, unter Druck zu setzen.
Im Angesicht brennender Felder wurden derweil vor allem unter israelischen Rechten Rufe nach einem großangelegten Militäreinsatz gegen die Hamas und den Islamischen Dschihad, gar nach einer Bodenoffensive laut. Mehrmals kam es zu kurzen, heftigen Konfrontationen zwischen den Kampfgruppen im Gazastreifen und dem israelischen Militär, die stets endeten, indem die Hamas einseitig einen Waffenstillstand ausrief.
Der riskante Einsatz
Doch Anfang vergangener Woche trug sich nun ein Ereignis zu, das die Situation völlig veränderte und alles viel, viel komplizierter machte: Mitten im Gazastreifen deckten die Essedin al Kassam-Brigaden, der militärische Arm der Hamas, Angehörige einer israelischen Elite-Einheit auf; es wurde geschossen, sieben Angehörige der Kassam-Brigaden und ein israelischer Offizier wurden Angaben von Hamas und israelischem Militär zufolge erschossen.
Dass die Kommando-Einheiten, die durch eine Vielzahl von gewagten Einsätzen einen legendären Ruf genießen, im Gazastreifen eingesetzt werden, passiert selten; selbst bei der Suche nach dem Soldaten Gilad Schalit, der jahrelang in Gaza festgehalten wurde, verzichtete man auf einen solchen Einsatz; das Risiko sei zu hoch.
Hinzu kommt aber auch, dass jede Form einer Bodenoperation in der israelischen Politik stark umstritten ist: Rechte Politiker fordern eine groß angelegte Bodenoffensive, gar eine Wiederbesetzung des Gazastreifens. Vor allem Regierungschef Benjamin Netanjahu lehnt solche Einsätze aber ab.
Aus gutem Grund: Die Hamas feiert den fehlgeschlagenen Einsatz als Sieg über die legendären israelischen Kommandoeinheiten; Israel habe damit "eine rote Linie" überschritten, so Sinwar in seiner Rede am Wochenende. Unmittelbar nach dem Einsatz feuerten die Kassam-Brigaden gut 500 Raketen und Geschosse auf Israel ab, mehr, als während des Gazakriegs 2014 an einem Tag verschossen wurden.
Israelische Militärvertreter vermuten, dass man damit die Grenzen des Raketenabwehrsystems "Iron Dome" austesten wollte: ein Wohnhaus und ein Bus wurden getroffen und schwer beschädigt. Ein Mensch wurde getötet, 48 verletzt. Israels Luftwaffe griff 100 Ziele im Gazastreifen an; nach Angaben des Roten Halbmondes wurden sechs Menschen getötet und eine unbekannte Zahl verletzt.