Israels Regierung vor dem Zusammenbruch

Bild: Government Press Office of Israel / CC BY-SA 3.0

Nach den schwersten Kämpfen in und um den Gazastreifen herum steht das Land vor Neuwahlen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Martialisch, das Gesicht grimmig-entschlossen, stand Jahya Sinwar auf der Bühne, vor sich Hunderte von Anhängern der Hamas; "die nächste Welle der Raketen wird Tel Aviv und seine Umgebung treffen", rief er ins Mikrofon, nachdem der Chef der radikalislamischen Organisation im Gazastreifen eine Pistole samt Schalldämpfer gezogen hatte: Sie habe einem der israelischen Soldaten gehört, die die Essedin-al-Kassam-Brigaden Anfang der vergangenen Woche im Gazastreifen entdeckt hatten:

Was hat sich die israelische Regierung gedacht, als sie Treibstoff und Geld aus Katar hereingelassen hat? Dass wir unser Blut für Diesel und Dollar verkaufen? Sie sind enttäuscht worden; ihre Ziele wurden nicht erreicht.

Jahya Sinwar, Hamas

Ganz vorne standen Mitarbeiter des ägyptischen Geheimdienstes, die Gesichter verdeckt hinter dunklen Sonnenbrillen: Seit Monaten versuchen sie, im Auftrag der ägyptischen Regierung Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel, der Hamas und dem Islamischen Dschihad auszuhandeln, mit mal mehr, mal weniger Erfolg.

Und trotz der martialischen Rede Sinwars und dessen Drohungen gegen Israel lässt ein Sprecher des ägyptischen Präsidenten Abdelfattah al-Sisi keinen Zweifel daran, dass man die Lage an diesem Wochenende als Erfolg, "als den besten Erfolg, den wir in einer schlechten Situation haben können", betrachtet.

Gaza: Trügerische Ruhe

Denn es blieb ruhig, es wurden keine Raketen auf Israel abgefeuert, und auch Israels Militär verzichtete auf Angriffe gegen Ziele im Gazastreifen. Auch die gut 8.000 palästinensischen Demonstranten, die am Freitag am Grenzzaun zusammengekommen waren, hielten dieses Mal gebührenden Abstand zum Zaun. In den vergangenen Monaten hatten israelische Soldaten immer wieder das Feuer auf Palästinenser eröffnet, die bei solchen Protesten dem Zaun zu nahe kamen.

Doch diese Ruhe ist trügerisch. Selten zuvor war die Lage so kompliziert. Obwohl der letzte Krieg zwischen Israel und der Hamas nun schon vier Jahre zurückliegt, die internationale Gemeinschaft auf Geberkonferenzen immer wieder Milliardensummen für den Wiederaufbau ausgelobt hatte, ist alles viel schlimmer geworden. Versprochene Gelder wurden nicht überwiesen und das auch, weil Funktionäre der Hamas und anderer Gruppen immer wieder Gelder und Güter veruntreuen.

Viele Wohngebäude sind nach wie vor nur notdürftig repariert, Straßen, Strom-, Wasserleitungen und Kanalisation sind marode; es herrscht tiefe Armut - eine Situation, die mehrere Ursachen hat: Zum einen ist da die Blockade des Landstrichs durch Israel und Ägypten; alle Ein- und Ausfuhren werden akribisch kontrolliert.

Zum anderen ist da aber auch die palästinensische Regierung in Ramallah im Westjordanland, die gerne die Kontrolle über den Gazastreifen zurückerlangen würde, und deshalb eine eigene Art von Blockade über Gaza verhängt hat.

Massive Verschlechterung der Lage

Obwohl die Hamas 2007 nach bürgerkriegsähnlichen Zuständen die Macht in Gaza übernommen hatte, bezahlte die von der Fatah dominierte Ramallah-Regierung jahrelang die Strom- und Treibstofflieferungen durch israelische Versorger, bis man die Praxis dann Ende vergangenen Jahres beendete und auch damit begann, an den Übergängen in den Gazastreifen das sogenannte "Pariser Protokoll", ein Wirtschaftsabkommen zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde, durchzusetzen: Seitdem erheben Beamte der Ramallah-Regierung dort auf Einfuhren Zölle und Steuern, welche die Waren in Gaza weiter verteuern.

Damit hat sich die Lage in Gaza massiv verschlechtert und ist der Druck auf die Hamas gestiegen, während vor allem der kleine, aber radikalere Islamische Dschihad verstärkt aktiv wird, Raketen auf Israel abfeuert und gegen die Hamas wettert, der man Versagen vorwirft. Israels Regierung, aber auch die Hamas werfen den Revolutionsgarden im Iran vor, den Islamischen Dschihad zu verstärkten Aktivitäten anzustacheln.

Der palästinensische Islamische Dschihad war Anfang der 80er Jahre entstanden, nachdem sich palästinensische Mitglieder der ägyptischen Muslimbruderschaft der revolutionären Ideologie Ajatollah Ruhollah Khomeinis verschrieben hatten.

Die Hamas-Führung versucht deshalb schon seit Monaten, sich als Volksbewegung zu präsentieren und Stärke zu zeigen, indem man zu wöchentlichen Massenprotesten aufruft. Man versuchte Israels Regierung durch Ballons und Winddrachen, an denen Brandsätze befestigt sind, unter Druck zu setzen.

Im Angesicht brennender Felder wurden derweil vor allem unter israelischen Rechten Rufe nach einem großangelegten Militäreinsatz gegen die Hamas und den Islamischen Dschihad, gar nach einer Bodenoffensive laut. Mehrmals kam es zu kurzen, heftigen Konfrontationen zwischen den Kampfgruppen im Gazastreifen und dem israelischen Militär, die stets endeten, indem die Hamas einseitig einen Waffenstillstand ausrief.

Der riskante Einsatz

Doch Anfang vergangener Woche trug sich nun ein Ereignis zu, das die Situation völlig veränderte und alles viel, viel komplizierter machte: Mitten im Gazastreifen deckten die Essedin al Kassam-Brigaden, der militärische Arm der Hamas, Angehörige einer israelischen Elite-Einheit auf; es wurde geschossen, sieben Angehörige der Kassam-Brigaden und ein israelischer Offizier wurden Angaben von Hamas und israelischem Militär zufolge erschossen.

Dass die Kommando-Einheiten, die durch eine Vielzahl von gewagten Einsätzen einen legendären Ruf genießen, im Gazastreifen eingesetzt werden, passiert selten; selbst bei der Suche nach dem Soldaten Gilad Schalit, der jahrelang in Gaza festgehalten wurde, verzichtete man auf einen solchen Einsatz; das Risiko sei zu hoch.

Hinzu kommt aber auch, dass jede Form einer Bodenoperation in der israelischen Politik stark umstritten ist: Rechte Politiker fordern eine groß angelegte Bodenoffensive, gar eine Wiederbesetzung des Gazastreifens. Vor allem Regierungschef Benjamin Netanjahu lehnt solche Einsätze aber ab.

Aus gutem Grund: Die Hamas feiert den fehlgeschlagenen Einsatz als Sieg über die legendären israelischen Kommandoeinheiten; Israel habe damit "eine rote Linie" überschritten, so Sinwar in seiner Rede am Wochenende. Unmittelbar nach dem Einsatz feuerten die Kassam-Brigaden gut 500 Raketen und Geschosse auf Israel ab, mehr, als während des Gazakriegs 2014 an einem Tag verschossen wurden.

Israelische Militärvertreter vermuten, dass man damit die Grenzen des Raketenabwehrsystems "Iron Dome" austesten wollte: ein Wohnhaus und ein Bus wurden getroffen und schwer beschädigt. Ein Mensch wurde getötet, 48 verletzt. Israels Luftwaffe griff 100 Ziele im Gazastreifen an; nach Angaben des Roten Halbmondes wurden sechs Menschen getötet und eine unbekannte Zahl verletzt.

Die Regierung gerät kräftig ins Wanken

In Israel geriet derweil die Regierung kräftig ins Wanken: Nachdem Regierungschef Benjamin Netanjahu erneut einen von Ägypten ausgehandelten Waffenstillstand akzeptiert hatte und so plötzlich Ruhe einkehrte, wie die Konfrontation begonnen hatte, trat Verteidigungsminister Avigdor Lieberman zurück und verließ zusammen mit den Abgeordneten der rechten Partei Jisrael Beitenu die Koalition, die damit nur noch 61 der 120 Parlamentsmandate hinter sich hat.

Lieberman, der schon seit Monaten eine Bodenoffensive in Gaza fordert, hatte die Eskalation zuvor in einer Sitzung des Sicherheitskabinetts zu einem direkten Machtkampf mit Netanjahu genutzt und verloren: Netanjahu stimmte einem von Ägypten ausgehandelten Waffenstillstand zu und degradierte damit de facto Liebermann zum reinen Befehlsempfänger.

Dass er derart massiv auf ein militärisches Vorgehen setzt, liegt vor allem daran, dass Jisrael Beitenu bei vergangenen Wahlen vor allem im Umland Gazas recht gut abschnitt; ohne diese Wähler droht man an der 3,25 Prozent-Hürde zu scheitern.

Denn die Zahl der Mandate israelischer Parlamentsfraktionen kann leicht darüber hinwegtäuschen, dass die Prozentzahlen oft wenig bis gar nicht spektakulär sind: So erzielte der Likud unter Führung von Benjamin Netanjahu nie mehr als die 23,4 Prozent, die man 2015 erhielt. Vier Koalitionspartner brauchte man, um überhaupt auf die hauchdünne Mehrheit von 61 Sitzen zu kommen - jede einzelne dieser Parteien kann jederzeit die Regierung zum Zusammenbruch bringen.

Und jede diese Parteien nutzte diese Position, wo es nur ging: So setzte die der Siedlerbewegung nahestehende Partei "Jüdisches Heim" durch, dass die Regierung ohne Genehmigung gebaute Siedlungen in den palästinensischen Gebieten zu offiziellen Siedlungen erklärt und einen ungehinderten Siedlungsbau akzeptiert. Und nun forderte der Parteivorsitzende Naftali Bennett, bisher Bildungsminister, auch das Amt des Verteidigungsministers für sich.

Die Uhr auf Neuwahlen gestellt

Damit stellte er die Uhr auf Neuwahlen. Denn Netanjahu lehnte, wie erwartet, ab: Obwohl man gemeinsam in der Koalition sitzt, sind die beiden privat verfeindet, während viele Funktionäre des Likud, eigentlich eine liberale Partei, Netanjahus Zugeständnisse an die Rechten schon seit langem als Ausverkauf von Likud-Werten sehen; Bennett als Verteidigungsminister wäre für die Partei kaum akzeptabel gewesen.

Die Machtspiele der vergangenen Tage seien ein gutes Zeichen dafür, dass das "Experiment Netanjahu 2015" gut ein Jahr vor der nächsten regulären Wahl gescheitert sei, sagte Mosche Kachlon am Sonntag, ein einstiger Likudnik, der 2015 mit seiner eigenen Partei Kulanu und dem Versprechen, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, antrat, dann in die Regierung eintrat, Finanzminister wurde und natürlich keinen bezahlbaren Wohnraum schuf: Er macht dafür die Vielzahl von Forderungen und Drohungen mit dem Koalitionsbruch verantwortlich, die die Regierungsarbeit in den vergangenen Jahren ausmachte.

So etwas ist nicht mein Stil, und es hat sich gezeigt, dass man sich bei Netanjahu nur durchsetzen kann, wenn man möglichst laut brüllt.

Mosche Kachlon

Auch die anderen Regierungsparteien haben sich mittlerweile für vorgezogene Neuwahlen ausgesprochen, und das auch, weil es nicht nur für Jisrael Beitenu, sondern auch für Kulanu und die beiden ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereinter Torah-Judaismus (UTJ) in den Umfragen kläglich aussieht: Allesamt sind sie nah an der 3,25 Prozent-Hürde dran, drohen aus dem Parlament zu fliegen. Durch vorgezogene Neuwahlen hofft man, die große Niederlage noch verhindern zu können.

Auf der anderen Seite drängt die neue Partei der Abgeordneten Orly Levy-Abekasis, einst Mitglied von Jisrael Beitenu, ins Parlament: Da es in Israel keine Direktmandate gibt, und jeder, der mehr als 3,25 Prozent der Stimmen erhält, nach derzeitigem Stand mindestens vier Mandate erhält, braucht man zwangsläufig eine Wahlliste hinter sich.

Levy-Abekasis werden derzeit sechs Sitze vorher gesagt. Dementsprechend ist das Verhalten solcher Fraktionen auch fast unkalkulierbar: Es passiert in solchen Fällen immer wieder, dass Abgeordnete ihre eigenen Wege gehen.

Aussichten

Zudem hat auch der ehemalige Generalstabschef Benny Gantz politische Ambitionen und ehemalige Militärs haben für israelische Wähler eine besondere Anziehungskraft. Dem entsprechend wird auch mit Spannung erwartet, für welche der Parteien sich Gantz, dessen politische Überzeugung eher Mitte-Links angesiedelt ist, entscheiden wird.

So werden der Zionistischen Union, einem Wahlbündnis aus der sozialdemokratischen Arbeitspartei, und der kleinen HaTnuah von Ex-Außenministerin Zippi Livni, ohne Gantz zwölf Sitze vorher gesagt, und mit ihm 24 - rein rechnerisch würde dies für eine Koalition aus Linken und Zentrum entweder unter Beteiligung der ultraorthodoxen Parteien oder mit Duldung der arabischen Liste reichen.

Schaffen es mehrere Parteien nicht ins Parlament, wäre mit Gantz den Umfragen zufolge eine Koalition aus Zionistischer Union, der zentristischen Zukunftspartei, Meretz, unter Duldung der arabischen Liste möglich; in der heutigen Zeit ist eine Einbindung der arabischen Mandatsträger durchaus denkbar.

Doch ein Problem bleibt, und das ist Gaza. Dass Parteien mitten in einer militärischen Konfrontation die Koalition gefährden, hat es bislang noch nicht gegeben; normalerweise ist das Gegenteil der Fall: Normalerweise legt man für einige Zeit die Differenzen bei Seite, gelobt Einigkeit, so lange die Krise anhält.

"Wir brauchen einen umfassenden Plan"

Doch dieses Mal ist die Situation anders, und das nicht nur, weil die Parlamentsparteien sich nicht an diese ungeschriebene Regel halten; auch in der Öffentlichkeit ist die Zustimmung zu vorgezogenen Neuwahlen gerade wegen der Krise groß.

Vor allem in Aschkelon und Aschdod, zwei Hochburgen des Likud in der Nähe des Gazastreifens, zweifeln viele an der Fähigkeit Netanjahus, eine Lösung zu erreichen, und das nicht unbedingt, weil man seinen Verhandlungskurs, seine Zustimmung zu den Waffenstillständen, seine Ablehnung einer Bodenoffensive ablehnt.

"Es reicht nicht aus, Waffenstillstände zu akzeptieren; wir brauchen einen umfassenden Plan, von A bis Z, für den Gazastreifen, für uns", sagt ein örtlicher Likud-Funktionär, und fügt hinzu, dass auch die vielen Korruptionsermittlungen gegen Netanjahu und seine Frau Sara, die Eskapaden seines Sohns Ja‘ir, der sich, vom Steuerzahler finanziert, von Bodyguards begleiten lässt, obwohl die Sicherheitsdienste kein Gefährdungspotential sehen, die Wähler abschrecken: "Es rumort in der Partei."

Vor allem Jisrael Katz, bislang Minister für Infrastruktur und die Geheimdienste, werden Ambitionen auf Netanjahus Nachfolge nachgesagt: Immer wieder macht er mit Plänen für Gaza von sich reden, die vor allem auf einen Dialog und den Wiederaufbau setzen; in Öffentlichkeit und Partei ist er beliebt. Die Möglichkeit, dass er vor Wahlen versuchen könnte, Netanjahu die Spitzenkandidatur abzunehmen, ist durchaus da.

Auch deshalb versucht Netanjahu derzeit nach Leibeskräften, Neuwahlen abzuwenden oder wenigstens den Zeitpunkt zu beeinflussen: Zu gefährlich sei die Situation, um jetzt die Entscheidungsprozesse durch einen Wahlkampf zu lähmen, sagte er in einer Fernsehansprache am Sonntagabend. Jederzeit könne es zur Eskalation kommen; Neuwahlen seien unverantwortlich.

In den meisten anderen Parteien verweist man indes darauf, dass die Situation durchaus noch ein Jahr andauern könne, und man dann um einen Wahlkampf keinesfalls herumkomme. Wahlen können in Israel nur im äußersten Notfall verschoben werden.