Ist Putin nach der gescheiterten Wagner-Revolte stärker als zuvor?

Seite 2: Die Autorität Putins

Was Putin anbelangt, so scheint er nach wie vor starke Nerven zu haben. Auch wenn seine Rede vom Samstag, in der er die Rebellion als Hochverrat verurteilte, nicht die rhetorische und moralische Kraft hatte, die de Gaulle als Reaktion auf den Putsch französischer Generäle in Algerien im April 1961 an den Tag legte, so war sie doch hart und entschieden genug, um seine Entschlossenheit zu zeigen, an der Macht zu bleiben, die Zweifler hinter sich zu versammeln und ein gewisses Maß an persönlicher Autorität wiederherzustellen:

Wir kämpfen für das Leben und die Sicherheit unseres Volkes, für unsere Souveränität und Unabhängigkeit, für das Recht, Russland zu bleiben, ein Staat mit einer tausendjährigen Geschichte.

… sagte er.

Die Hintergründe der Wagner-Revolte (und vielleicht auch die Reaktion darauf) haben jedoch einige wesentliche Merkmale von Putins Art der Machtausübung deutlich gemacht. Bezüglich seiner Ausbildung und seinem Instinkt ist er ein Geheimdienstler, kein Soldat.

Er hat immer, wenn es möglich war, indirekte, halb verdeckte und einfacher zu leugnende Methoden der direkten militärischen Gewalt vorgezogen. Daher sein Zögern, in die Ukraine einzumarschieren, worauf ihn Hardliner innerhalb seiner Regierung lange gedrängt hatten.

Daher auch seine Unterstützung von Wagner, das als "privates Militärunternehmen" russische Ziele im Donbass, in Syrien und in Afrika verfolgen konnte, während die russische Regierung sich offiziell von ihren Aktionen distanzieren konnte.

Zweitens: Während Putin im Westen und von seiner eigenen inländischen Propaganda als absolutistischer Autokrat dargestellt wird, hat er in Wirklichkeit oft eher wie der Vorsitzende einer zerstrittenen Ansammlung von Staatsoligarchen gewirkt. Er hat ihre Fehden als Teil einer Strategie des "Teile und Herrsche" sogar gefördert und ist nur dann – in diesem Fall sehr spät – eingeschritten, wenn sie öffentlich auszubrechen drohten und seine eigene Autorität gefährdeten.

Putin war auch ein Meister in der Verteilung von staatlicher Patronage und sorgte dafür, dass die Verlierer von Streitigkeiten innerhalb des Regimes mit beträchtlichem Reichtum entschädigt wurden, solange sie ihm gegenüber loyal blieben.

Können diese Form der Machtausübung und Regierung fortbestehen? Alles hängt davon ab, was auf dem Schlachtfeld in der Ukraine geschieht. Wenn die Russen ihre derzeitige Linie halten können, wird Putins Herrschaft höchstwahrscheinlich überleben. Eine weitere schwere Niederlage würde sie wahrscheinlich beenden.

Was seine persönliche Autorität betrifft, so wird sich bald die Frage stellen, ob Putin nach der Absetzung Prigoschins nun Schoigu und Gerassimow ablösen kann, wie es sich viele russische Soldaten wünschen, oder ob er weiterhin untrennbar verbunden ist mit diesen und anderen Vertrauten (zu denen Prigoschin früher gehörte), ungeachtet ihrer offensichtlichen Versäumnisse und Verbrechen.

Denn ein Schlüsselfaktor für die katastrophale Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, und für den allgemeinen Niedergang an Kompetenz des Putin-Regimes war die sich verstärkende Tendenz Putins, sich mit einer immer kleiner werdenden Gruppe enger Vertrauter zu umgeben und sich ausschließlich auf deren Rat zu verlassen.

Schließlich wird die Wagner-Revolte, so kurz und erfolglos sie auch gewesen sein mag, unweigerlich die Spekulationen darüber wieder anfachen, ob Putins Ansehen dermaßen stark geschädigt ist, dass er beschließen könnte, bei den (laut Verfassung) Anfang nächsten Jahres anstehenden Wahlen nicht erneut für das Präsidentenamt zu kandidieren und stattdessen das Amt an einen gewählten Nachfolger zu übergeben (so wie es Präsident Jelzin 1999 getan hat).

Die Revolte war zwar ein schwerer Schlag für Putin, aber sie könnte auch einmal mehr seine entscheidende persönliche Bedeutung für das von ihm geschaffene politische System unterstreichen – was seine Verbündeten in diesem System dazu veranlassen könnte, ihn zu bitten, im Amt zu bleiben, da sie befürchten, ohne ihn nicht in der Lage zu sein, ihre eigenen Rivalitäten friedlich zu schlichten.

Denn wenn Putin maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Wagner-Bewegung zu einer Bedrohung für den russischen Staat wurde, so stimmt es doch wohl auch, dass nur er die Fähigkeit besaß, den Aufstand der Wagner-Bewegung schnell und ohne Blutvergießen oder möglichen Bürgerkrieg zu beenden.

Zu Beginn des Kalten Krieges schrieb George Kennan in weiser Voraussicht, dass "Russland über Nacht von einer der stärksten zu einer der schwächsten und bedauernswertesten nationalen Gesellschaften werden könnte, wenn die Autorität der Kommunistischen Partei ins Wanken geriete".

Man kann sich fragen, ob das heute auch auf Putins Autorität zutrifft, wie geschwächt sie auch sein mag.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).