Ist Verschlüsselung schuld?

Terroranschläge können die informationelle Selbstbestimmung gefährden

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Nur Stunden nach den Anschlägen in den USA haben Beamte des FBI bei Maildiensten wie Hotmail und Internetprovidern vorgesprochen, wie Wired und Newsbytes berichten. Ihr Anliegen: Sie wollten schnellstmöglich ihr bislang höchst umstrittenes Mailfiltersystem Carnivore installieren. AOL und Earthlink haben ihre Kooperation mit dem FBI bestätigt. Auch mehrere Telekomunternehmen sollen dem FBI ihre Mitarbeit angeboten haben. Kryptografie wird immer öfter in Verbindung mit Terrorismus genannt.

Bei dem Geburtstag des Chaos Computer Club kommt das Gespräch auf informationelle Selbstbestimmung, den Einsatz von Verschlüsselungsprogrammen zur Wahrung der Privatsphäre. Kann der einzelne selbst entscheiden, welche Daten er von sich preisgibt? CCC-Sprecher und ICANN-Direktor Andy Müller-Maguhn fragt zurück: "Meinst Du den Stand von gestern oder heute?" Keine Frage: der Terroranschlag auf die USA wird Auswirkungen auf die Freiheit im Netz haben. Steven Levy erörtert die These in einem Artikel offensiv: "Did Encryption Empower These Terrorists?" - Waren die Anschläge nur mit Hilfe von Verschlüsselung möglich?

Kongressmitglieder haben angekündigt, dass sie überprüfen wollen, ob schärfere Überwachungsmaßnahmen Anschläge wie die eben geschehenen verhindern könnten. Der demokratische Senatsabgeordnete Patrick Leahy, Vorsitzender des Senate Judiciary Committee, und der republikanische Abgeordnete Jon Kyl betonten gestern, dass die Gesetzgeber dringend darüber nachdenken müssten, ob die Überwachungsmöglichkeiten verstärkt werden sollten.

Während die Internetprovider anonym bleiben wollen, die akzeptiert haben, das Lauschsystem Carnivore bei sich installieren zu lassen, um die Kommunikation von Verdächtigen überwachen zu lassen, haben AOL und Earthlink bestätigt, dass sie den Anfragen des FBI nachkommen wollen. Allerdings sagen beide Unternehmen, dass bei ihnen Carnivore nicht installiert wurde, da sie für die Überwachung eigene Möglichkeiten besitzen.

Ist PGP eine Waffe?

Man weiß nicht viel von Usama Ibn Ladin. Einen Fakt melden aber alle Medien immer wieder: Der arabische Multimillionär verfügt über modernste Technologie und benutzt Satellitentelefone. Natürlich nur mit höchster Verschlüsselungsstufe. Auch wenn es nicht Bin Laden war: die konzertierte Aktion einer großen Gruppen lässt auf einen langen Vorbereitungsprozess schließen, und das über Grenzen hinweg. Da die internationale Kommunikation durch Systeme wie Carnivore und Echelon kontrolliert wird, haben sich die Täter höchstwahrscheinlich irgendeiner Verschlüsselung bedient.

Die Möglichkeiten sind vielfältig. Es gibt frei erhältliche Verschlüsselungsprogramme wie Pretty Good Privacy (PGP). Textbotschaften können mittels Steganografie in Bilddateien versteckt werden. Anonymizer verschleiern den Ursprung einer Botschaft. Aber auch ein gut gewählter Wörtercode könnte durch das Netz der Geheimdienste schlüpfen, die offenbar völlig von den Ereignissen überrascht wurden. So könnte man die weltweite Auktionsplattform Ebay für versteckte Botschaften verwenden, oder auch über Rezensionen bei Amazon. Terroristen könnten sich sogar mit der Chat-Funktion eines Multi-User-Spiels verständigen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Schon seit Jahren behandeln die USA Verschlüsselungstechnologien wie Kriegsmaterial. Die sichersten Verfahren dürfen nicht exportiert werden. So konnte lange Zeit der Quelltext von PGP nur in Buchform nach Europa eingeführt werden. Dort wurde er dann eingescannt und neu kompiliert. Nur so konnten die strengen Exportbeschränkungen umgangen werden. Das Argument der Amerikaner: selbst minderbemittelte Kriminelle könnten sich mit Hilfe von Krypto-Tools vor Entdeckung schützen. Levy wendet ein: Bei den Terroristen handelt es sich keinesfalls um Minderbemittelte. Selbst bei einem Verbot von Kryptographie-Tools hätte sich die Gruppe mit Verschlüsselung versorgen können. Etwas unbequemer vielleicht, aber ohne große Schwierigkeiten. Die Algorithmen, die in der Kryptographie zum Einsatz kommen, sind öffentlich bekannt. Auch jenseits der Grenzen der USA.

Das Netz wird enger gespannt

Gerade in den letzten Jahren haben sich die Techniken zur Überwachung drastisch verbessert. So ist es mittlerweile möglich, einzelne Personen in einem Fußballstadion anhand von Videoaufnahmen sofort zu identifizieren (All along the Camera-Tower). Mobiltelefone werden in den Vereinigten Staaten mit GPS-Sendern ausgerüstet, um eine Ortung des Besitzers zu ermöglichen. Bei Notrufen kann das einen unschätzbaren Nutzen haben. So haben die Rettungskräfte heute immer wieder mit Hilfesuchenden zu tun, die nicht ihren genauen Standort angeben können. Mit Satellitenkoordination könnten sie auf Meter genau lokalisiert werden - Hilfe ist so schneller vor Ort.

Die Kehrseite der Medaille: praktisch jeder kann jederzeit geortet werden. Der Einsatz des IMSI-Catchers zeigt, wie gerne staatliche Stellen von solchen technischen Möglichkeiten Gebrauch machen. Gleiches gilt für die Verkehrsüberwachung, die zur Erhebung von Mautgebühren geplant wird. Ein kleiner Sender an der Windschutzscheibe ist für den Autofahrer vielleicht die bequemste Lösung - schließlich muss er nicht an Mautstellen anhalten. Gleichzeitig gibt er aber ein Stück Privatsphäre auf. Jede Fahrt kann minutiös nachvollzogen werden.

Gerade hatte sich wieder ein Bewusstsein für die Datenschutz gebildet. Es bleibt abzuwarten, ob dieses Bewusstsein die Aufregungen nach dieser "Kriegserklärung" übersteht, oder ob totale Überwachung als das kleinere Übel gesehen wird.

Dazu siehe auch: Überwachung im Aufwind.