Ist die europäische Diskussionskultur schon Geschichte?

Der fließende Übergang zwischen Fakt und Fiktion ist für manche asiatische Gesellschaft Tagesgeschäft

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Die klassische Diskussion soll das Gegenüber nicht zwingend vom eigenen Standpunkt überzeugen, sondern zu einem Kompromiss oder der beidseitigen Erkenntnis führen, dass unterschiedliche Meinungen herrschen, wobei man zumindest die Gelegenheit hatte, den anderen Standpunkt kennen zu lernen. Was in Westeuropa über lange Zeit allgemein gültig war, gilt mitnichten weltweit und scheint auch in Europa an Bedeutung zu verlieren.

Als ich Anfang der 1990er-Jahre meine ersten Schritte in Fernost unternahm, weil die Nachfrage nach Informationen zu Erneuerbaren Energien und Energieeffizienz soweit angestiegen war, dass es geboten schien, entsprechende Informationsangebote vor Ort bereitzustellen, war ich ziemlich verblüfft ob der Begründung, warum man sich für diese Themen interessierte.

Man hatte erfahren, dass dies in Deutschland ein Thema sei und wollte das im eigenen Land auch, weil Erneuerbare und Energieeffizienz offensichtlich ein Zeichen von Modernität waren. Energieeinsparung war zuvor in China durch staatliche Heizverbote geregelt worden. Zwischen dem 32. und 34. nördlichen Breitengrad verlief die Heizungsgrenze. Nördlich davon wurde zwischen dem 15. November bis zum 15. März geheizt.

Südlich davon war das Heizen seit den 1950er-Jahren verboten, was für viele Betroffene kaum noch mit den allgemeinen Moderinsierungsfortschritten des Landes vereinbar schien. Argumentiert wurde mit dem Vorbild der europäischen Länder. Sachliche Argumente tauchten in den Gesprächen nicht auf. Wenn es dann zur Sache ging, bestand die Kernfrage darin, wer für die Kosten aufkommt. China hatte den Vorteil, dass man als Entwicklungsland auf Unterstützung aus Europa hoffen konnte.

Kausalketten

Kausalketten werden zumeist nur dann akzeptiert, wenn sie offensichtlich sind. So gab es bis zur königlich verordneten Modernisierung Anfang des 20. Jahrhunderts in Thailand keine Familiennamen. Die Verwandtschaftsbeziehungen bestanden nur zwischen Müttern und Kindern sowie zwischen Geschwistern. Der Rest war nicht offensichtlich.

Noch heute werden kaum zu leugnende Zusammenhänge mit Vorliebe ignoriert. Traditionell wird der Klebreis im Dampfbad über dem offenen Feuer zubereitet. Das Feuer wird mittels Stücken aus alten Autoreifen angezündet, was dem Reis die entsprechende Farbe und den Rauchgeschmack verschafft.

Dass Lungenkrebs bei Frauen, die das Essen so zubereiten, zu den Haupttodesursachen zählt, verwundert nur dann nicht, wenn Kausalketten auf eine direkte Auswirkung beschränkt sind. Umweltfreundlichere Anzündemöglichkeiten für das tägliche Feuer setzen sich nur dann durch, wenn sie billiger als alte Autoreifen sind.

Mit einer klassischen humanistischen Ausbildung ins Leben geschickt, war für mich das Zusammentreffen mit einem Umfeld, das sich durch das Fehlen jeglicher Argumentations- und Diskussionskultur auszeichnet, durchaus eine Art von Kulturschock.

Da war ich im Übrigen gar nicht so alleine. Entwicklungshilfeprojekte machten die fehlende Wirksamkeit fachlicher Argumente zumeist mit finanziellen Mitteln wett. Um die zuhause erwarteten Erfolge zu erzielen, musste man die lokalen Partner bezahlen und das möglichst so, dass es zuhause nicht als Korruption wahrgenommen wurde. Wenn man über ein ausreichendes Zeitbudget verfügt, kann man auch durch vorbildhaftes Verhalten einiges bewirken.

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