Ist ein Kompromiss zwischen "Volksrepubliken" und Kiew möglich?
Politologen aus Lugansk über mögliche Kompromisse mit der Ukraine. Telepolis berichtet aus dem Donbass - Teil 3
Am 14. Februar wurde auf der Website der Münchner Sicherheitskonferenz ein Plan veröffentlicht, wie man in "zwölf Schritten" zum Frieden in der Ostukraine kommen kann.
Der Plan war unterzeichnet vom Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, dem ehemaligen Verteidigungsminister Großbritanniens, Des Browne (unter Tony Blair zwei Jahre Verteidigungsminister), Igor Iwanow (von 1998 bis 2004 russischer Außenminister) und anderen Politikern und Sicherheitsexperten aus Europa und den USA.
Der Plan, der zwischenzeitlich von der Website verschwand, Samstagnacht dann aber wieder online war, sieht vor, dass das ukrainisch-russische "Zentrum für die Kontrolle und Koordination" des Waffenstillstands seine Arbeit wieder aufnimmt. Die russischen Offiziere hatten das Joint Centre for Control and Coordination (JCCC) 2017 verlassen.
Außerdem sieht der Plan vor, dass die Verteidigungsministerien von Frankreich, Russland, Deutschland und der Ukraine Arbeitsgruppen bilden, "um das JCCC zu unterstützen". Die Zahl der Grenzkontrollpunkte zwischen der Ukraine und den "Volksrepubliken" soll erhöht werden.
Der Plan sieht einen wirtschaftlichen "Wiederaufbau des Donbass" durch die EU vor. Auf einer internationalen Geber-Konferenz "könnten auch Mittel von Russland" eingeworben werden. Weiterhin sieht der Plan vor, dass im Donbass eine ukrainische "freie Handelszone" für den Handel mit der EU und Russland entsteht. Geplant ist außerdem ein Dialog über "nationale Identität" und "Toleranz" in der Ukraine.
Eine Rückkehr der Krim und der "Volksrepubliken" in den ukrainischen Staatsverband ist für die Autoren keine Bedingung für die Verwirklichung des Zwölf-Punkte-Plans.
Selensky: "Wir wurden nicht gefragt"
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski kritisierte, dass die Ukraine vor der Verfassung des Plans "nicht gefragt" worden. Der Mitautor des Zwölf-Punkte-Plans, Wolfgang Ischinger, bekam einen Eintrag auf der berüchtigten ukrainischen Website "Mirotworets" ("Friedensstifter"), da er angeblich die territoriale Integrität der Ukraine verletzen wolle.
Die Außenministerin der "Volksrepublik Donezk", Natalja Nikonorowa, erklärte, der Zwölf-Punkte-Plan habe "keinen praktischen Nutzen". Die Vorschläge seien "nicht konkret formuliert" und "ohne Konsultation mit den Vertretern der Volksrepubliken" verfasst worden. Der 12-Punkte-Plan sei "der Versuch, die Erfüllung des Minsker Abkommens zu umgehen".
Politologe: "Direktwahlen der Abgeordneten – das wäre ein Kompromiss"
Ende Januar war der Autor dieser Zeilen selbst in der "Volksrepublik Lugansk". Sergej Below vom Lugansker Außenministerium hilft mir bei meinem Besuch, interessante Gesprächspartner zu finden. Im Büro der Menschenrechtsorganisation Memorial treffe ich zwei Politologen aus Lugansk, Juri Medwedew und Aleksandr Prozenko. Ich befrage sie über die Situation in der "Volksrepublik" und einen möglichen Friedensprozess.
Prozenko unterrichtet an der Universität von Lugansk Politologie. Er ist Leiter des Zentrums für soziologische Forschungen "Besonderer Status". Das Zentrum führt unter anderem Meinungsumfragen durch. Juri Medwedew unterrichtet an der Universität von Lugansk internationales Recht.
Teil 1 der Berichte aus dem Donbass: An der Frontlinie in Lugansk
Teil 2: "Wir haben uns an den Krieg schon gewöhnt"
Wie sieht es mit dem Schmuggel aus der Ukraine in die "Volksrepublik Lugansk" aus?
Aleksandr Prozenko: Diejenigen, welche die Warenausfuhr aus der Ukraine kontrollieren - das sind Soldaten der ukrainischen Armee und ukrainische Freiwilligenbataillone -, haben bis 2017 nicht-gesetzliche Schutzgelder für legale Exporte aus der Ukraine erpresst. Nach der Verhängung eines totalen Wirtschaftsboykotts der Ukraine gegen die LNR im Jahre 2017 wurden die Warentransporte aus der Ukraine in die LNR zu Schmuggelware. Man darf jetzt nur noch 50 Kilogramm Ware aus der Ukraine in die Volksrepublik Lugansk einführen. Wer sich auf der Seite der LNR am Schmuggel beteiligte, wurde bestraft.
Wegen der Wirtschaftsblockade gibt es keinen legalen Warenexport aus der Ukraine in die LNR mehr. Und der Schmuggel lohnt sich nicht mehr. Die Preise für ukrainische Lebensmittel sind seit 2017 erheblich gestiegen. Außerdem ist die Qualität bestimmter ukrainischer Waren wie Wurst schlechter geworden. Wurst, Milchprodukte, Mehl, Brot und guter Wodka werden jetzt in der LNR selbst produziert. Fleisch ist jetzt in der LNR so teuer wie in der Ukraine. Aus der Ukraine kommt vor allem Käse, Saft und Gemüsekonserven.
Wie entwickeln sich die Lebenshaltungskosten?
Aleksandr Prozenko: Die Mindestrente in der LNR ist seit Januar höher als in der Ukraine. Die Betriebskosten für Wohnungen sind in der LNR geringer. Die Löhne für Staatsangestellte in der LNR sind um 70 Prozent gestiegen.
Welche Parteien gibt es heute in der "Volksrepublik Lugansk"
Aleksandr Prozenko: Es gibt in der LNR keine Parteien, sondern zwei parteiähnliche Bewegungen. Beide sind zentristisch. Die "Lugansker Wirtschaftsunion" (13 Sitze im Parlament, U.H.) stützt sich vor allem auf große und kleine Geschäftsleute und verfolgt Wirtschaftsinteressen. Die Bewegung "Frieden für Luhanschtschina" (37 Sitze) ist eine Bewegung mit sozialdemokratischen Elementen. Sie steht für einen sozialen Staat und dafür, dass der Staat eine bestimmte Verantwortung für die Bürger übernimmt.
Viele Dinge, die in der LNR eingerichtet wurden, wurden dies mit Blick auf einen Kompromiss mit der Ukraine. Obwohl 90 Prozent der Bewohner in der LNR Russisch sprechen, ist die ukrainische Sprache in der Verfassung der LNR als offizielle Sprache verankert. Bei den Wahlen 2014 und 2018 wurden die Wahlzettel zweisprachig gedruckt. Auf diese Weise zeigen wir Toleranz gegenüber der ukrainischen Sprache.
Wie können Wahlen nach dem Minsker Abkommen organisiert werden?
Aleksandr Prozenko: Nach dem Abkommen von Minsk sollen in der Volksrepublik Lugansk und Donezk Wahlen nach einem ukrainischen Gesetz stattfinden. Der Inhalt dieses Gesetzes soll nach dem Abkommen mit den Vertretern der Volksrepubliken abgestimmt werden.
Ich glaube nicht daran, dass Kiew sich mit uns auf einen Kompromiss einlässt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass in den Volksrepubliken Parteien wie der "Rechte Sektor" oder "Nationaler Korpus" kandidieren. Die haben ja militärische Einheiten. Natürlich wollen die Politiker, die aus den Volksrepubliken in die Ukraine emigriert sind, eine Revanche. Sollen sie doch hier kandidieren. Bloß, wer wird sie wählen?
Ein Kompromiss könnte sein, dass die Wahlen hier nicht nach Parteilisten durchgeführt werden, sondern dass nur über Direktmandate gewählt wird. Das heißt, die Kandidaten können Parteien angehören, aber die Parteien selbst stehen nicht zur Wahl.
Der Fahrplan für die Wahlen müsste so aussehen: Die Ukraine verabschiedet in Absprache mit den Volksrepubliken ein Wahlgesetz, wir kümmern uns um die Organisation und Durchführung der Wahlen und die OSZE sowie deren "Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte" führen die Wahlbeobachtung durch.
Bei diesen Wahlen würden die politischen Vertreter der LNR international einen legalen Status bekommen. Man könnte sie nicht mehr beschuldigen, dass sie illegal sind. Es lohnt sich deshalb diesen Kompromiss anzustreben.
Wie groß sind die Chancen, dass es zu einem realen Waffenstillstand kommt?
Juri Medwedew: Die ukrainische Regierung macht eine heuchlerische und inhumane Politik. Sie verhängte gegen uns eine Wirtschaftsblockade, zwang die Rentner auf den schweren Weg, sich die Rente in der Ukraine abzuholen und sie setzt die militärischen Beschießungen fort. Die Ukraine will den Donbass zurückbekommen, aber mit dem, was sie tut, erzürnt sie die Menschen hier. Sie arbeitet faktisch gegen die erklärte Absicht, die Volksrepubliken zurückzubekommen.
Aleksandr Prozenko: Der im letzten Jahr vollzogene Truppenabzug an zwei Abschnitten der Trennlinie war ein symbolischer Akt, der unter enormen Schwierigkeiten umgesetzt wurde. Es hat drei Monate gedauert. Vielleicht will Selenski den Truppenabzug, aber er kontrolliert diesen Prozess nicht.
Nach Angaben der UNO starben im Donbass 13.500 Menschen. Nach unseren Untersuchungen sind davon ein Drittel Zivilisten. Zwei Drittel sind ukrainische Soldaten und Soldaten der Volksrepubliken. Der Anteil der Freiwilligen aus Russland unter den Toten ist minimal.
Gibt es etwa 300 tote Freiwillige aus Russland?
Aleksandr Prozenko: Vielleicht. Die genaue Zahl kenne ich nicht. Der Großteil der Menschen, die hier kämpfen, sind Menschen von hier, die eine Waffe in die Hand genommen haben.
Sergej Below: Zwei Monate nach dem Amtsantritt von Selenski, am 20. Juli, wurde bei einem ukrainischen Beschuss der Stadt Perwomajsk eine Frau getötet und elf Menschen verletzt. Der teilweise Abzug der ukrainischen Truppen und der Waffenstillstand beeindruckt die Menschen in der LNR nicht mehr. Wie viele Waffenstillstände wurden in den letzten Jahren schon geschlossen. Sie wurde alle von der Ukraine gebrochen.
Die Situation ist demoralisierend. Warum haben viele unserer Soldaten ein schwieriges Verhältnis zum Abkommen von Minsk? Weil das Abkommen verbietet, auf Beschießungen der ukrainischen Seite zu antworten. Die Soldaten der LNR sollen die Bevölkerung beschützen, dürfen aber nicht schießen. Wenn man die Kommentare unserer Soldaten in den sozialen Netzen liest, dann findet man dort immer wieder die Frage, warum dürfen wir die Menschen nicht beschützen? Die Situation ist wie beim Fußball. Du stehst im Tor und kannst nicht antworten.
Aleksandr Prozenko: Besonders radikale Gruppen aus der Ukraine schämen sich nicht, Videos zu publizieren, auf denen zu sehen ist, wie von Drohnen Bomben auf Stellungen unserer Soldaten und sogar auf die Randgebiete von bewohnten Orten abgeworfen werden. Mit diesen Videos erstatten diese radikalen Gruppen offenbar Bericht bei ihren Sponsoren.