Ist unser System noch in der Lage, die großen Zukunftsprobleme zu lösen?
Seite 2: Maximal demokratisch: Auslosen
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Entscheider erneut statistisch repräsentativ auszulosen, anstatt sie zu wählen und zu berufen, galt bis vor Kurzem als Spinnerei.
Doch das hat sich in den letzten vier Jahren grundlegend geändert. Ausgehend von sehr emotionalen Erzählungen, wie das katholisch-konservative Irland mittels ausgeloster Bürgerversammlungen ein modernes Abtreibungsrecht und die gleichgeschlechtliche Ehe in seine Verfassung gebracht hat, wurden bald Forderungen laut, auch in Deutschland per Zufall bestimmte Bürger politische Entscheidungen vorbereiten zu lassen.
Und im Herbst 2019 haben zivilgesellschaftliche Gruppen in Deutschland aus eigener Kraft einen losbasierten Bürgerrat einberufen, dessen Beratungsergebnisse kein Geringerer als der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mit großem Dank entgegengenommen hat.
Im Nachbarland Frankreich hatten kurz zuvor Hunderte Bürgerräte als Reaktion auf die Gelbwesten-Proteste diskutiert.
Zusammen mit einem geeigneten Beratungs- und Entscheidungsverfahren ist die Auslosung von Stellvertretern einer Wahl in allen Punkten überlegen: Sie ist maximal demokratisch, sie bietet Chancengleichheit für alle, ist völlig robust gegen Bestechung und andere Formen antidemokratischer Einflussnahme, sie minimiert Eigeninteressen und ermöglicht es, Probleme zu lösen, anstatt sie für Wahlkämpfe zu inszenieren.
Aleatorische Demokratie
Alles spricht für die Auslosung – als Verfahren zur gesellschaftlichen Steuerung "aleatorische Demokratie" genannt, nach dem lateinischen Wort für Würfel "alea" und bekannt u.a. aus Asterix: "Alea iacta est", "der Würfel ist geworfen" bzw. in der klassischen deutschen Wendung "die Würfel sind gefallen".
Doch gerade, weil alles für das demokratische Auslosen spricht, muss der gegenwärtige Hype um Bürgerräte skeptisch machen. Denn die Stärken aleatorischer Demokratie sind ein Frontalangriff auf die real herrschende Aristokratie.
Die Auslosung nimmt in ihrer Egalität keinerlei Rücksicht auf Parteikarrieren, sie kennt keine Hierarchie, keinen Fraktionszwang, keine leeren Wahlversprechen. Parteien und Lobbyisten kann es zwar auch in einer aleatorischen Demokratie geben, doch ihren heutigen Einfluss auf das gesamte öffentliche Leben würden sie zum größten Teil einbüßen.
Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass gerade Berufspolitiker, die zum Teil seit vielen Jahrzehnten das irre Eigenleben der Parteien kennen, einen Systemwechsel herbeisehnen und daher für Experimente offen sind (einige Politiker und Ex-Politiker haben ganze Bücher darüber geschrieben).
Gute Lobbyisten könnten darauf vertrauen, dass sie ausgeloste Bürger von ihren Positionen überzeugen werden; gute Lobbyisten sind nicht auf politische Hinterzimmer angewiesen, auf verdeckten Einfluss, auf Kraftmeierei. Aber es wird nur eine sehr kleine Minderheit sein, die um einer gerechten Demokratie willen ihre Sonderrolle aufzugeben bereit ist.
Deshalb steht zu befürchten, dass einige Befürworter aleatorisch-demokratischer Bürgerbeteiligung Wölfe in Schafspelzen sind. Schließlich möchte kaum einer der Protagonisten dieser neuen Bürgerrechtsbewegung seinen eigenen Einfluss bzw. die eigenen (wirtschaftlichen) Vorteile von einer Lotterie abhängig machen, was bedeutet: zugunsten der Allgemeinheit Sonderrechte aufzugeben.
Das Losverfahren kann jedenfalls bei unprofessionellem oder gar bewusst ungeeignetem Einsatz schnell diskreditiert werden – um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden, wo es – von kleinen Ausnahmen abgesehen – schon die letzten zweitausend Jahre geschlummert hat.
Die Evolution ist sehr fürs Führerprinzip zu haben, allerdings mit einer Bedingung, die keiner der Möchtegern-Philosophenkönige zu erfüllen bereit ist: Man führt nur die eigene Sippschaft, und der persönliche Erfolg ist vollständig an den Erfolg dieser Sippe gekoppelt.
Führer sozialer Verbänden tun, was Politiker stets nur behaupten: sie tragen die Verantwortung. Wer in dieser Funktion im Tierreich fehlt, ist in der Regel kurze Zeit später tot – oder zumindest auf dem Abstellgleis, anstatt in einem Aufsichtsrat.
Zwei Probleme stehen der Realisierung entgegen
Aber wir können problemlos erkennen, dass schlussendlich strikte Demokratie für die meisten von uns das Beste wäre, und wir können uns ebenso problemlos Regeln geben, die unser antidemokratisches Genom so in Schach halten, dass möglichst alle zu ihrem Recht kommen. Doch zwei Probleme stehen der Realisierung entgegen.
1. Zum einen verlangt Demokratie nicht weniger als die Entmachtung der Mächtigen. Und das sind eben nicht nur Politik- und Wirtschaftsführer, es sind letztlich alle, die heute den Ton angeben, die Debatten prägen, einschließlich all derer, die sich für mehr Bürgerrechte einsetzen. Es sind die Lobbyisten großer Verbände und kleiner Vereine, es sind die Mitglieder von Expertengremien, Beteiligungskommissionen, Stadtteilinitiativen, es sind wir welterklärenden Journalisten, es sind die Schauspieler, Musiker und Bestseller-Autoren der Talkshows.
Die Elitenforschung rechnet in Deutschland maximal 4.000 Menschen zur Elite, also zu den tatsächlich Einflussreichen. Aber wesentlich mehr Menschen sehen sich selbst als einflussreich und geben auch tatsächlich in kleineren Bereichen den Ton an. Sie alle profitieren von undemokratischen Strukturen, von Ungleichheit, von Hierarchie, vom Fokus auf diese sogenannte Elite, davon, dass sie bedeutsamer sind als ihr Publikum, die Kunden, User, das "gemeine Volk" eben.
2. Zum anderen schrecken selbst die meisten derer, die unser Gesellschaftssystem kritisieren, vor Gedanken an einen grundlegenden Wechsel zurück, – sogar wenn sie nicht zu denen gehören, die persönlich an nennenswertem Einfluss verlieren würden. Zu vertraut und zu omnipräsent ist das Verfahren, Parteien zu wählen und damit nicht nur Entscheidungsmöglichkeiten, sondern auch alle Verantwortung abzugeben.
Auch aus respektabler Demut vor den Aufgaben der Politik schrecken viele wütende Bürger davor zurück, über ein wirklich anderes System von Checks and Balances nachzudenken.
Deshalb genügt es keineswegs, ein paar unverbindliche Beratungen an ausgeloste Bürgerversammlungen zu delegieren, wie es gerade Standard wird. (Schon heute haben wir solche "Bürgerräte" u.a. in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Belgien, Polen, den USA, Japan – und vieles spricht dafür, dass ihr Einsatz zumindest vorübergehend noch deutlich zunehmen wird.) Es geht um den ganz großen Wurf. Es geht darum, Herrschaft zu überwinden.
Demokratie wird zwar stets mit "Volksherrschaft" übersetzt, doch wenn man Demokratie zu Ende denkt, ist in ihr kein Platz für Herrschaft des einen über den anderen, es ist nur Platz für "Selbstherrschaft". Demokratie braucht nicht Staat und Bürger als Antipoden.
Es gehört zu den großen (aber natürlich zweckmäßigen) Missverständnissen, in einer Demokratie entscheide die Mehrheit, welcher sich die Minderheit unterzuordnen habe. So kann man Parteienherrschaft gestalten, aber nicht die Zukunft. Ob Klimawandel oder die nächste Pandemie, ob Welternährung oder tierschutzgerechte Landwirtschaft, Entbürokratisierung oder Digitalisierung – wir müssen Demokratie deutlich weiterentwickeln. Und das heißt: die Strukturfehler erkennen und Neues zu probieren.
Zur Vertiefung und Diskussion sei aus dem umfangreichen Telepolis-Angebot unter anderem verwiesen auf:
Zum Begriff der "Freiheit" in einer "freiheitlichen Demokratie": Freiheit ist nie vulgär.
Zu Grundproblemen gesellschaftlicher Debatten den Dreiteiler: Hürden der Aufklärung.
Zu Notwendigkeit und Grenzen der Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen: Diktatur oder Demokratie in Krisenzeiten?
Zum Modell Bürgerrat im Stadtteil: Politik und Bürger haben eine Kommunikationskrise
Zur Diskussion um aleatorische versus repräsentative Demokratie: Soll man Berufspolitiker durch zufällig geloste Bürger ersetzen?
Zur Fokussierung der Demokratie auf Wahlen: Wählen ist kein Synonym für Demokratie
Zur grundlegenden Demokratiereform hat Timo Rieg zwei Bücher geschrieben: "Demokratie für Deutschland" (2013) und – mit stärkerem satirischem Einschlag – "Verbannung nach Helgoland" (2004).