Istanbul-Wahl: Die Demokratie ist noch lange nicht zurück
Seite 2: Letztlich haben Erdogans Weggefährten es in der Hand, seine Herrschaft zu beenden
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Aktuell sieht es für ihn tatsächlich reichlich ungünstig aus. Die Wirtschaft ist am Boden, und es gibt aktuell keine Anzeichen dafür, dass sich das alsbald ändert. Dass die AKP zuletzt so viel an Unterstützung verloren hat, liegt vor allem hierin begründet.
Noch gefährlicher für den Präsidenten könnte aber eine sich bereits abzeichnende Meuterei im eigenen Lager sein. Fast alle einstigen Weggefährten und Mitgründer der AKP haben sich längst von ihm abgewendet.
Ex-Präsident Abdullah Gül macht keinen Hehl mehr daraus, dass er Erdogans Kurs für falsch hält. Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu will in Kürze gemeinsam mit weiteren gewichtigen Abweichlern eine neue Partei gründen. Wenn die AKP zerbricht, dann zerbricht auch das Fundament von Erdogans Herrschaft. Er wird also alles tun, um das zu verhindern. Man kann nur raten, welche Mittel er dabei anwenden wird.
Durch den Verlust von Istanbul verliert er nun auch die Gefälligkeit von beträchtlichen Teilen der Wirtschaft, vor allem der Bauwirtschaft, die sich nun der CHP zuwenden dürfte. Und viele der AKP-nahen religiösen Stiftungen dürften kaum erfreut darüber sein, dass der stetige Geldfluss aus der Stadtkasse zum Erliegen kommt.
Die Frage, ob Erdogan ein CHP-regiertes Istanbul einfach so akzeptieren wird, ist also noch keineswegs geklärt. Erst letzte Woche hatte er angedeutet, dass auf Imamoglu eine Haftstrafe zukommen könnte, da derzeit gleich mehrere Gerichtsverfahren gegen ihn laufen.
Die Kernargumente der Anklagen lauten auf Präsidentenbeleidigung. Ein Mittel, mit dem Erdogan schon Tausende aus dem Verkehr gezogen hat. Darüber hinaus bliebe ihm eine Absetzung Imamoglus. Im Südosten des Landes hat er zahllose Kommunen unter Zwangsverwaltung gestellt und damit demokratische Wahlergebnisse einfach zerschlagen. Die Frage ist, ob er diesen Schritt auch in Istanbul wagt.
Darüber hinaus darf man nie vergessen: Istanbul ist zwar elementar wichtig, aber Istanbul ist nicht die Türkei. Obwohl die AKP dort und in vielen weiteren Metropolen verloren hat, hält sie landesweit nach wie vor die Stimmenmehrheit. Die anatolische Landbevölkerung wählte bis zuletzt mehrheitlich die AKP.
Und selbst wenn sich das bis 2023 ändern sollte, gibt die neue Verfassung Erdogan das Recht, das Parlament einfach aufzulösen - und bis dahin kann er ohnehin über das schwache Parlament, in dem die Opposition keine Mehrheiten hat, hinwegregieren. Daran könnte lediglich die erwähnte Aufsplittung der AKP etwas ändern. Letztlich haben Erdogans Weggefährten es in der Hand, seine Herrschaft zu beenden.
HDP, CHP und Iyi Parti
Aber vier Jahre sind eine lange Zeit. Und in dieser Zeit kommt es ganz maßgeblich nicht nur darauf an, ob Erdogan wieder festen Boden unter die Füße bekommt. Sondern auch auf das Verhalten der Opposition. Ohne die tatkräftige Unterstützung der HDP, also der vorwiegend kurdischen Wähler, hätte die CHP in Istanbul nicht gewinnen können.
Die HDP hat, wie auch die rechte Iyi Parti, zugunsten Imamoglus auf eigene Kandidaten verzichtet. Die CHP steht tief in der Schuld dieser Parteien. Wenn sie einen wirklichen Wandel will, darf sie das nicht vergessen.
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Denn zwar ist Imamoglu ein charismatischer Politiker, der im Gegensatz zu den AKP-Granden nicht auf Hetze, sondern in seiner ruhigen Art auf Versöhnung setzt. Aber die Inhalte der CHP sind nach wie vor schwammig. Parteichef Kemal Kilicdaroglu hat es nicht geschafft, ihr ein klares Profil und eine Vision für die Zukunft zu verpassen. Dabei hätte er dafür zahlreiche Chancen gehabt. Er hat sie alle verspielt. Ob Imamoglu das Format hat, diese Lücke zu füllen, muss sich erst noch zeigen.
Klar ist: Die CHP wird ohne ein klares Programm und glaubwürdige Ideen langfristig nicht erfolgreich sein. Klar ist auch: Sie wird nicht erfolgreich sein, wenn sie wieder auf Spaltung setzt. Die Kemalisten haben nur einen Weg: Der HDP die Hand zu reichen, auf die Freilassung von HDP-Chef Demirtas und der weiteren inhaftierten Parteimitglieder zu drängen und mit ihnen zu kooperieren und in diesem Prozess auch noch die Iyi Parti zu integrieren.
Das ist eine gewaltige Aufgabe. Wenn sie nicht gelingt, wird der Spalter Erdogan Mittel und Wege finden, die Schwächen seiner Gegner auszunutzen.
Gestern hat Istanbul ausgelassen gefeiert. Heute muss die Stadt die Ärmel hochkrempeln und hart arbeiten. Demokratie wird nicht an der Wahlurne gemacht. Sondern in der Zivilgesellschaft. Jeden Tag.