Istanbul feiert, Erdogan poltert

Nach den Kommunalwahlen hofft die türkische Opposition auf eine Wende

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Es ist an der Zeit, von Faschismus zu sprechen", sagt die im deutschen Exil lebende Schriftstellerin Asli Erdogan über die Lage in der Türkei. Was sie damit meint: die Menschenrechtslage, die Willkürjustiz, die gleichgeschaltete Presse, die Verfolgung von Oppositionellen. Aktuell sind noch ca. 140 Journalisten in Haft.

"Die Gefängnisse sind total überfüllt", sagt sie und bezweifelt, dass die von der Regierung verkündeten Zahlen stimmen. Aktuell würden im ganzen Land neue Haftanstalten gebaut, noch immer werden täglich Gegner von Staatspräsident Erdogan verhaftet. Asli Erdogan war im Jahr 2017 selbst 132 Tage im Frauengefängnis Bakirköy bei Istanbul - angeklagt wegen Artikeln, die sie geschrieben hatte.

"Wenn wir Istanbul verlieren, verlieren wir die Türkei"

Doch seit den Kommunalwahlen vor drei Wochen schöpft die Opposition wieder Hoffnung. Die regierende AKP hat in zahlreichen wichtigen Großstädten, darunter auch Istanbul und Ankara, verloren. "Wenn wir Istanbul verlieren, verlieren wir die Türkei", hatte der Präsident selbst gesagt und die Wahl einmal mehr zur Schicksalswahl über seine Person erklärt. Letztlich war es die miese Wirtschaftslage, die ihn den Erfolg gekostet hat.

Die Arbeitslosigkeit liegt bei fast fünfzehn Prozent, die Inflation bei zwanzig Prozent. Im Laufe des Jahres wird sich die Türkei aller Voraussicht nach Geld beim IWF borgen müssen, um seine Milliardenschulden weiter bedienen zu können. Die Mehrheit der Bürger spürt das am eigenen Geldbeutel. Viele Dinge des täglichen Bedarfs sind für Durchschnittsverdiener kaum noch zu bezahlen.

Gegenmodell zu Recep Tayyip Erdogan

Am Wochenende wurde der neue Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der kemalistischen CHP von Hunderttausenden gefeiert. Er wolle für alle Bürger da sein und die Konflikte beenden, sagte er. Schon im Wahlkampf gab er sich ruhig und versöhnlich - ein Gegenmodell zu Recep Tayyip Erdogan, den er mit seiner wütenden Attacken einfach auflaufen ließ. Doch noch immer will die AKP das Wahlergebnis nicht akzeptieren.

Obwohl bei mehreren Nach-Auszählungen der Stimmen das gleiche Ergebnis herauskam, übt Erdogan Druck auf die Wahlkommission YSK aus, die Wahl zu wiederholen. Vor zwei Jahren war dieser Druck bereits erfolgreich. Damals ließ die YSK noch während der Auszählungen ungestempelte Stimmzettel offiziell zu und öffnete damit der Manipulation Tür und Tor.

Die Angst der Erdogans

Diesmal könnte es allerdings anders laufen. Denn dass eine Neuwahl ein neues Ergebnis bringen würde, gilt als unwahrscheinlich. Die Unzufriedenheit der Türken über die wirtschaftliche Situation wird sich nicht in wenigen Wochen in Luft auflösen.

Daher besteht das Risiko, dass Erdogan erneut versuchen könnte, was ihm bereits 2015 zum Erfolg verhalf: Damals hatte die kleine HDP der AKP die absolute Mehrheit verhagelt, weshalb Erdogan die Koalitionsverhandlungen blockierte, Neuwahlen erzwang und derweil das Land mit einer neuen Konfrontation mit der PKK ins Chaos stürzte.

Erste Anzeichen hierfür gibt es bereits: Die AKP-nahen Medien bezeichneten das Wahlergebnis als "Putsch" und rückten die gesamte Opposition wieder einmal in die Nähe von Terroristen. Bei einer Soldatenbeerdigung am Montag wurde CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu von einem wütenden Mob attackiert. Wie sich später herausstellte, war einer der Angreifer, der den Politiker ins Gesicht schlug, AKP-Mitglied.

Für den Absturz der Wirtschaft machte Erdogan ausländische Medien verantwortlich - während Oppositionspolitiker in den nun übernommenen Rathäusern bereits analysieren, wohin die ganzen Steuergelder in den letzten Jahren geflossen sind. Millionensummen reichte die AKP beispielsweise an konservative islamische Stiftungen weiter. Hiervor dürfte sich der Erdogan-Clan besonders fürchten: Dass nach und nach das ganze Netz der Korruption, in das die Familie verstrickt ist, belegt werden kann.