Istanbuler Terroranschlag: Oppositionspartei zerpflückt Kriegsgrund der Türkei

Erdogan als Schutzpatron von Dschihadisten: Kurdische Gruppen projizierten dieses Bild in Stockholm auf die türkische Botschaft. Foto: ANF

Englischsprachiger Bericht geht auf Ungereimtheiten ein. Dschihadistischer Tathintergrund wahrscheinlich. Angebliche Täterschaft der PKK dient weiter als Grund für türkische Angriffe in Syrien.

Um den angeblich von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder ihr nahestehenden syrisch-kurdischen Organisationen verübten Bombenanschlag in der İstiklal Caddesi in Istanbul ist es still geworden – jedenfalls in der westlichen Öffentlichkeit – obwohl das Attentat vom 13. November mittlerweile seit Wochen als Vorwand für türkische Bombenangriffe im Nachbarland Syrien dient.

Einen englischsprachigen Bericht über Unstimmigkeiten in der offiziellen Version veröffentlichte diese Woche der auswärtige Ausschuss der linken Oppositionspartei HDP (Demokratische Partei der Völker), die 2018 drittstärkste Kraft im türkischen Parlament wurde und in den kurdischen Gebieten des Landes Mehrheiten erreicht.

In dem Bericht unter der Überschrift "Der Bombenanschlag in Istanbul und der Krieg der Türkei gegen Nord- und Ostsyrien (Rojava)" wird hervorgehoben, dass die HDP im Parlament eine umfassende Untersuchung des Anschlags mit sechs Todesopfern und 81 Verletzten gefordert habe. Die sei aber von der Regierungskoalition aus Recep Tayyip Erdogans AKP und der ultranationalistischen MHP abgelehnt worden.

Schließlich gab es aus ihrer Sicht nicht mehr viel zu untersuchen, denn türkische Strafverfolgungsbehörden hatten die mutmaßliche Bombenlegerin schon am Tag nach dem Attentat in Handschellen der Öffentlichkeit präsentiert. Die festgenommene Ahlam A. soll ihnen auch gleich erzählt haben, dass sie im Auftrag der PKK gehandelt habe. Hämatome im Gesicht waren ihr für den unfreiwilligen Fototermin nicht einmal weggeschminkt worden. Sie soll syrische Staatsbürgerin und 23 Jahre alt sein.

Verbindungen zum "Islamischen Staat"

"Grundlegende Details der Geschichte ändern sich ständig", heißt es im Bericht der HDP-Kommission. Zunächst sei die Hauptverdächtige angeblich über Afrin in die Türkei gekommen. "Später änderte sich dies in Idlib." Auch sei zunächst behauptet worden, sie habe sich seit vier Monaten in der Türkei aufgehalten, Nachbarn hätten aber gesagt, sie habe seit einem Jahr dort gewohnt.

Von mehr als 25 Verdächtigen, die insgesamt festgenommen wurden, sei nicht eine Person kurdischer Herkunft, wird in dem Bericht betont. Alle hätten einen arabischen Hintergrund und viele – darunter die Hauptverdächtige – hätten "entweder früher mit dem Islamischen Staat oder türkischen Stellvertreterkräften in Syrien wie der Freien Syrischen Armee (FSA) zusammengearbeitet" oder "familiäre Verbindungen zu solchen Organisationen".

Mazlum Abdi, der Oberbefehlshaber der Demokratischen Kräfte Syrien (Syrian Demokratic Forces, SDF), die eng mit der Internationalen Koalition gegen den IS zusammenarbeiten, hat laut dem Bericht eine internationale Untersuchung des Anschlags gefordert. Er habe dem Nachrichtenportal Al-Monitor gesagt, die SDF hätten den Hintergrund von Ahlam A. untersucht und festgestellt, dass sie aus einer Familie in Aleppo stamme, "die mit dem Islamischen Staat verbunden ist".

Drei ihrer Brüder starben demnach als IS-Kämpfer – einer in Rakka, ein anderer in Manbidsch und ein Dritter im Irak. Ein weiterer Bruder sei Kommandeur der von der Türkei unterstützten syrischen Opposition in Afrin. Sie selbst sei mit drei verschiedenen IS-Kämpfern verheiratet gewesen.

Kontakt zwischen MHP-Politiker und mutmaßlicher Attentäterin

Brisanter ist aber der Vorwurf, dass ein Bezirksvorsitzender der MHP, die als Juniorpartner an Erdogans Seite steht, die Hauptverdächtige laut Verbindungsdaten telefonisch kontaktiert haben soll. Darüber berichtete auch die türkischsprachige Zeitung Cumhuriyet schon wenige Tage nach dem angeblichen PKK-Attentat.

Die linke PKK und die neofaschistische MHP, deren Anhänger hier auch als "Graue Wölfe" bekannt sind, stehen allerdings nicht im Ruf, miteinander zu reden. Eher wäre ein solcher Kontakt zwischen der MHP und Dschihadisten vorstellbar. Der betreffende MHP-Politiker Mehmet Emin Ilhan soll die mysteriöse Kommunikation mit einem Identitätsdiebstahl erklärt haben, dessen Opfer er geworden sei.

Die HDP bemängelt nun, dass an dieser Stelle nicht weiter ermittelt worden sei, um den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung zu überprüfen – oder dass zumindest nicht über das Ergebnis informiert werde.

Unterdessen nutzt die AKP-MHP-Regierung die vermeintliche Urheberschaft der PKK für den Anschlag als Kriegsgrund – sie gibt vor, in Nordsyrien nur "Terrorismusbekämpfung" zu betreiben, weil schließlich die dortigen Volksverteidigungskräfte (YPG) mit der PKK verbandelt seien.

Die bundesdeutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte die Erzählung vom PKK-Terror als Kriegsgrund bei einem Türkei-Besuch vor wenigen Wochen nicht in Frage gestellt, sondern lediglich angemahnt, die türkische Reaktion müsse "verhältnismäßig sein". Kurz darauf rief Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) die türkischen Nato-Partner dazu auf, "von Maßnahmen, die die Gewaltspirale weiter vorantreiben würden – wie eine mögliche Bodenoffensive in Nordsyrien oder Militäraktionen im Nordirak – abzusehen".