Italien: Lega übernimmt Tabellenführung
Salvini: Auf nationaler Ebene ändert sich nichts - aber auf europäischer
Den europaweit größten Sprung nach vorne machte gestern Nigel Farages erst vor kurzem gegründete Brexit Party, die nach Auszählung von 371 der 373 Wahlkreise mit 31,6 Prozent Stimmenanteil führt (vgl. UK: Brexit Party stärker als Labour und Tories zusammen). Der zweitgrößte Sprung nach vorne kommt von der italienischen Lega, deren Parteifarbe Grün ist. Sie landete 2014 bei 6,2 Prozent - und 2019 nach fast kompletter Auszählung der italienischen Stimmen bei 34,9 Prozent. Damit gewann sie 28,7 Punkte dazu - deutlich mehr als Emmanuel Macrons neues Wahlbündnis, das nur bei 22,5 landete (vgl. EU-Wahl: Macron verliert gegen Le Pen).
Zu diesem Sieg beigetragen haben dürfte ein Ereignis, über das in deutschen Medien kaum, aber in italienischen viel berichtet wurde: Der letzte Woche verübte Brandanschlag eines Marokkaners auf eine Polizeiwache in Mirandola bei Modena, bei dem zwei Menschen ums Leben kamen. Auch der viele Schlagzeilen produzierende Fall Fredy Pacini, den die Partei zum Anlass genommen hatte, das Notwehrrecht zu konkretisieren, nutzte ihr wahrscheinlich indirekt.
Halbierte Sozialdemokraten zweitstärkste Kraft
Mit ihrem Ergebnis ist die ehemalige Lega Nord, die sich in den 1980er Jahren aus sezessionistisch gesinnten Bürgerinitiativen in der Lombardei und anderen norditalienischen Regionen gründete, zum ersten Mal stärkste Partei bei einer landesweiten Wahl. Zweitstärkste Partei wurde die bis 2018 regierende und seitdem oppositionelle sozialdemokratische Partito Democratico (PD). Sie erreichte mit 22,2 Prozent allerdings nur gut die Hälfte der 40,81 Prozent, auf die sie bei der EU-Wahl 2014 gekommen war. Die jetzt mit der Lega regierende M5S, die damals aus dem Stand 21,16 Prozent und Platz 2 schaffte, muss sich 2019 mit 16,9 Prozent und Platz 3 zufriedengeben.
Nimmt man ihre 32,8 Prozent bei der Parlamentswahl von 2018 zum Maßstab, verlor die M5S sogar 15,78 Punkte. Dafür gewann die andere Regierungspartei, die 2018 bei 17,34 gelandete Lega, an diesem Parlamentswahlmaßstab gemessen 17,56 Prozent hinzu. Das Kräfteverhältnis in der Koalition habe sich damit umgekehrt, meint der PD-Chef Nicola Zingaretti, der heute Nacht verlautbarte, die italienische Regierung sei nach der Europawahl "fragiler" als vorher.
"Neues Europa" für "Beschäftigung, Recht und Sicherheit"
Lega-Chef Matteo Salvini sagte dagegen, auf nationaler Ebene habe die EU-Wahl nichts geändert. Wer Recht hat - Zingarelli oder Salvini - wird die Zukunft zeigen. Gut möglich ist, dass die Lega nun mit mehr Nachdruck die von ihr angestrebte Flat Tax für die Mittelschicht, den Weiterbau der Hochgeschwindigkeitszugverbindung zwischen Turin und Lyon sowie mehr Subsidiarität fordert (vgl. Neun-Milliarden-Bahntunnel: Belastungstest für die italienische Regierung). Vorgezogene Neuwahlen wären allerdings ein Risiko, weil selbst 34,9 Prozent Stimmenanteil nicht für eine andere Koalitionsoption ausreichen müssen, wenn Silvio Berlusconis Forza Italia und die Alleanza-Nazionale-Nachfolger Fratelli d'Italia (wie gestern) nur auf mittlere einstellige Stimmenanteile kommen.
Während Salvinis Verlautbarungen nach in Italien alles beim Alten bleibt, will er nach seinem Wahlerfolg auf europäischer Ebene eine Änderung von Regeln angehen und ein "neues Europa" für "Beschäftigung, Recht und Sicherheit" entstehen lassen. Dazu hat er nach eigenen Angaben bereits mit der französischen Wahlsiegerin Marine Le Pen und mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán telefoniert.
Orbán: Italienisches statt österreichisches Modell
Dessen Wahlbündnis aus Fidesz und christdemokratischer Kereszténydemokrata Néppárt (KDNP) steigerte sein Ergebnis von 51,84 auf 52,14 Prozent. Die zweitplatzierte sozialdemokratische Demokratikus Koalíció (DK) konnte ihr Ergebnis von 9,75 auf 16,2 Prozent steigern. Auf dem dritten Platz landete mit 9,9 die auf Europaebene zu den Liberalmacronisten gehörende neue Partei Momentum. Die 2014 mit 14,68 Prozent zweitplatzierte nationalistische Jobbik-Partei stürzte auf 6,4 Prozent ab, die ehemals regierende sozialdemokratische MSZP von 10,92 auf 6,7 Prozent.
Orbán wertete die im Vergleich zu 2014 um 14 Punkte gestiegene Wahlbeteiligung als "eindeutiges Zeichen dafür, dass Ungarn sich seiner wichtigen Rolle in Europa bewusst" sei. Bereits bei der Stimmabgabe hatte er gemeint, er "hoffe, dass es in der europäischen Öffentlichkeit zu einer Verschiebung zugunsten jener politischen Parteien kommen wird, die die Migration stoppen wollen". In diesem Zusammenhang raunte er etwas rätselhaft, das "österreichische Modell" sei nun "beendet" und er habe "auf das italienische Modell umgesattelt". Das kann man als Zeichen dafür interpretieren, dass er die aktuell ruhende Mitgliedschaft in der christdemokratischen EVP-Fraktion (der auch die österreichische ÖVP von Sebastian Kurz angehört) zugunsten einer in Matteo Salvinis neuer Allianz interpretieren will - oder auch nicht.
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