"Je länger der Krieg, desto mehr muss Putins Umfeld Loyalität beweisen"
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Das System Putin ist am Ende, meint der russische Journalist Andrej Perzew. Aber anders als vom Westen erhofft: Putin entscheidet zunehmend allein. Warum er im Kreml unangefochten bleibt. Das Interview.
Der Journalist Andrej Perzew ist Sonderkorrespondent der exilrussischen Zeitung Meduza und bekannt für seine direkten Kontakte in den russischen Machtapparat. Weiterhin ist er Gastexperte beim Carnegie Endowment for International Peace in Moskau. Hier spricht er über das System Putin.
Sie haben geschrieben, dass 2022 der "kollektive Putin" gestorben sei, weil nur noch er allein Entscheidungen treffe und sich nicht mehr vorher mit seinen inneren Zirkeln, auch nicht mit dem Geheimdienst FSB, abspreche. Heißt das auch, dass etwa direkte Kriegsentscheidungen, in deren Folge auch Wohnhäuser getroffen werden, von Putin selbst kommen?
Andrej Perzew: Ich glaube, dass die Raketenangriffe auf Wohnhäuser schon mehr auf dem Gewissen der militärischen Führung lasten, angefangen bei General Sergej Surowikin, dem bisherigen Befehlshaber der sogenannten "Speziellen Militärischen Operationen". Das ist sein Stil der Kriegsführung und das war er auch in Syrien.
Von Putins engstem Kreis wissen wir, dass er ihn vor dem Krieg bei einer Reihe von Entscheidungen konsultiert hat. Auch bei Entscheidungen, die sich später als falsch herausstellten, wie Russlands Rückzug aus dem OPEC+-Abkommen im März 2020. Jetzt gibt es nichts Vergleichbares. Jetzt konsultiert er niemanden mehr, weshalb ich diese Situation als "Tod des kollektiven Putin" bezeichnet habe. Ich glaube, er hat seinem inneren Kreis vor Kriegsbeginn vertraut, als man ihm dort sagte, die russische Armee werde in der Ukraine mit Blumen begrüßt. Das passte einfach in sein Weltbild.
Jetzt sehen wir in Putin einen Mann, der sich nur noch auf sich selbst verlässt. Woher er unter anderem die Information hat, dass "99,9 Prozent der Russen bereit sind, alles im Interesse des Vaterlandes zu tun", wie er im Dezember 2022 sagte, ist unklar.
Gleichzeitig hat in den elf Monaten des Krieges niemand aus Putins Umgebung oder der russischen Elite ihn kritisiert, etwa wegen des in der Ukraine angezettelten Krieges. Warum ist das so?
Andrej Perzew: Putins Umgebung ist sehr heterogen. Es gibt mehrere Gruppen. Da sind zum einen die Leute aus den Sicherheitsdiensten, die ein eher geringes politisches Verständnis haben, der Propaganda ausgesetzt sind und unter den westlichen Sanktionen leiden. Die glauben wirklich, dass der russische Präsident alles richtig macht. Die zweite Gruppe sind Karrieristen, Leute, die den Krieg vielleicht nicht gutheißen, aber ohne Bekenntnis zum Krieg die Karriereleiter nicht erklimmen können. Deshalb greifen sie zu demonstrativer Loyalität. Die dritte Gruppe sind diejenigen, die mit dem Krieg nicht einverstanden sind, die durch ihn persönliche Verluste erleiden. Aber auch sie schweigen, und der Hauptgrund ist hier meiner Meinung nach Angst.
Seit Beginn des Krieges hört und sieht man wenig von denen, die man in Putins Umfeld gemeinhin als Technokraten bezeichnet. Vor allem von Premierminister Michail Mischustin, eigentlich die Nummer 2 in Russland, oder Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin. Bedeutet das, dass sie bereits von Hardlinern wie Jewgeni Prigoschin verdrängt wurden?
Andrej Perzew: Im Moment würde ich die Technokraten nicht vernachlässigen. Am Anfang haben sie versucht, alles zu vermeiden, was mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hat. Je länger der Krieg dauert, desto weniger können sie schweigen, auch sie müssen Loyalität zeigen. Wir sehen zum Beispiel, dass derselbe Premierminister Mischustin und auch Bürgermeister Sobjanin kürzlich Journalisten der staatlichen Medien ausgezeichnet haben, die über den Krieg in der Ukraine berichtet haben. Sobjanin hat auch selbst im Dezember die Zone der "militärischen Sonderoperation" besucht.
Aber ich würde das alles eher als rituelle Handlungen sehen, als Loyalitätsbekundungen von Technokraten. Nicht als eine wirkliche Beteiligung oder Unterstützung des Einmarsches in die Ukraine.
Sie haben auch geschrieben, Putin habe mit dem Kriegsausbruch endgültig das Interesse an der Innenpolitik verloren. Andererseits gibt es Berichte, dass im Kreml bereits die Vorbereitungen für die Präsidentschaftswahlen 2024 beginnen. Ist das für den Kremlchef nicht wichtig?
Andrej Perzew: Die Wahlvorbereitungen für 2024 in Putins Umfeld befinden sich derzeit noch in der Diskussionsphase, die etwa seit Herbst letzten Jahres läuft. Aber auch dieses Umfeld weiß nicht, welche Ideologie bis dahin vorherrschen und was bis dahin mit dem Land passieren wird. Soweit ich informiert bin, hat es in der Präsidialadministration noch keine Besprechungen zu diesem Thema gegeben.
Einerseits nimmt Putin gerne an Wahlen teil, wo er die Unterstützung der Bevölkerung erhält. Als er zum Beispiel 2020 die Verfassung reformierte, hätten alle Änderungen von der Staatsduma abgesegnet werden können. Dem Kremlchef war aber eine landesweite Abstimmung wichtig.
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