Jede Menge Homos
Die Vorstellung einer gradlinigen Entwicklung der Menschheit muss ad acta gelegt werden
Immer deutlicher zeichnet sich ab, das unser Stammbaum sich vielfältig gestaltet. Vor knapp zwei Millionen Jahren gab es mehr als eine Art unserer Vorfahren. Neben Homo erectus lebten gleichzeitig noch mindestens zwei weitere Frühmenschen-Arten in Ostafrika. Den Beweis in Form mehrerer versteinerter Knochen legt eine Forschergruppe in der aktuellen Ausgabe von Nature vor.
Vor rund 150 Jahren fanden Steinbrucharbeiter im Neandertal in der Nähe von Düsseldorf seltsame Knochen, die sich erst nach und nach als die Überreste einer vor ungefähr 25.000 Jahren ausgestorbenen Menschenart herausstellten, die nach ihrem Fundort benannt wurde (Neues vom wilden Mann). Der Neandertaler ist im menschlichen Stammbaum eine Art Onkel, der ohne eigene Nachkommen verstarb, aber in uns einige wenige seiner genetischen Spuren hinterließ.
Das Bild von der Entstehung des Menschen hat sich seither radikal gewandelt. Immer weiter zurück gelang es Paläoanthropologen die Verwandtschaftslinie zu ziehen. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts galt der Homo erectus, der "aufrechte Mensch", als der älteste Vorfahre des modernen Menschen. Die damalige Wissenschaftswelt ging davon aus, dass er aus Asien stamme. Das änderte sich radikal, als immer mehr versteinerte Knochen in Afrika auftauchten. Heute gilt: Homo erectus entstand in Afrika und wanderte von dort nach Asien und Europa aus - wo sich aus ihm der Neandertaler entwickelte.
Und vor ihm lebte andere Vormenschen (und so genannte Hominiden, die bereits mehr Ähnlichkeit mit dem modernen Menschen aufweisen als mit dem Schimpansen) in Afrika, seit dem Millennium gelangen spektakuläre Funde wie der des 5,8 Millionen Jahre alten Ardipithecus ramidus kadabba in Äthiopien (Die Rückkehr zum Planet der Affen 9076). Ein heiß umstrittenes Feld, denn immer noch ist unklar, wann der letzte gemeinsame Ahne von Menschen und Menschenaffen lebte - und wer dieser Missing Link war.
Evolutionsschatztruhen in Ostafrika
Es ist unumstritten, dass Homo erectus als früher Mensch einzuordnen ist, er beherrschte das Feuer, stellte Gerätschaften und Waffen her, und wahrscheinlich verständigte er sich bereits mittels Sprache (Geistiger Urknall). Debattiert wird dagegen bis heute über seinen Vorgänger oder Zeitgenossen Homo habilis, der vor circa 2,5 Millionen Jahren in Afrika aus dem Dunkel der Evolution auftauchte.
Der Stammvater der berühmtesten Paläoanthropologen-Familie Louis Leakey grub 1960 in Tansania verschiedene Knochen und einen Unterkiefer eines jugendlichen Individuums aus, das vor 1,75 Millionen Jahren gelebt hatte, und den Namen OH7 erhielt. Zusammen mit anderen Funden diente OH7 1964 als Basis der Beschreibung der neuen Art Homo habilis, alias "geschickter Mensch". Er stelle mit seinen Merkmalen potenziell ein Bindeglied zwischen Australopithecus (Lucys Schlachtfest) und Homo erectus dar, meinten die beteiligten Forscher - die restliche Fachwelt hingegen bezweifelte allerdings anfangs die Berechtigung der Einordnung in die Gattung Homo.
Weiteres Futter bekam die Debatte 1972, als Richard Leakey der Welt den Schädel mit der Bezeichnung KNM-ER 1470 vorstellte, den sein Team am Turkana-See in Nordkenia entdeckt hatte. Aus mehr als 150 Fragmenten rekonstriert, fehlen KNM-ER 1470 die Zähne und der Unterkiefer. Die Datierung und Einordnung blieben zunächst fragwürdig. Letztlich erwies sich ein Alter von ungefähr zwei Millionen Jahren als wahrscheinlich. Der Wissenschaftler tendierte dazu, den Schädel als Kopfstück eines Homo habilis zu betrachten, aber die speziellen Merkmale des Fundes führten dazu, dass 1470 seit Mitte der 80er Jahre zusammen mit anderen als Homo rudolfensis klassifiziert wird - eine Art, die viele Paläoanthropologen bis heute nicht als eigenständig akzeptieren.
Wieder die Leakeys
In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature stellt eine Forschergruppe unter Leitung von Meave Leakey vom Turkana Basin Institute in Nairobi, Kenia, ihre neu entdeckten Fossilien und den Beweis vor, dass gleichzeitig neben Homo erectus vor knapp zwei Millionen Jahren noch andere Menschen-Arten lebten.
Kenia erweist sich einmal mehr als wesentlicher Fundort für die Ursprünge der Menschheit. In einer Entfernung von nicht mehr als 10 Kilometern von der Fundstelle des Schädels KNM-ER 1470 im Osten des Turkana-Sees entdeckte das Team des Koobi Fora Forschungsprojekts zunächst das Unterkieferfragment KNM-ER 62003, dann den Gesichtsknochen KNM-ER 62000 eines Jugendlichen, der 1470 sehr ähnelt und dessen Oberkiefer noch Backenzähne enthält. Als letztes kam noch "der am vollständigsten erhaltene Unterkiefer eines frühen Vertreters der Gattung Homo, der jemals entdeckt wurde" hinzu, der die Bezeichnung KNM-ER 60000 erhielt.
KNM-ER 1470 hatte die Experten vor viele Fragen gestellt, da seine Form auf ein großes Gehirn dieses Urahnen des Menschen schließen ließ und sein Gesicht auffallend lang war. Da der Unterkiefer sowie die Zähne fehlten und der Fund zudem einmalig war, hielten viele Paläoanthropologen diese Auffälligkeiten bislang für rein inviduelle Merkmale, oder auch für einen Unterschied der Geschlechter sehr früher Menschen.
In den vergangenen 40 Jahren haben wir in den gewaltigen Sedimentflächen rund um den Turkana-See angestrengt nach Fossilien gesucht, die die einzigartigen Merkmale des Gesichts von Fossil 1470 teilen und uns zeigen, wie seine Zähne und sein Unterkiefer ausgesehen hätten. Endlich haben wir einige Antworten gefunden.
Meave Leakey
Mehrere Arten Homo
Mit den jetzt entdeckten Fossilien, die 1,78 und 1,95 Millionen Jahre alt sind, ist es nun möglich, das Gesicht von 1470 zu ergänzen. Das Team erläutert:
Da das Fossil KNM-ER 1470 (kurz: 1470) nur ein einziges Individuum repräsentierte, konnten wir nicht sicher sein, dass es sich dabei nicht lediglich um ein sonderbares Individuum einer formenreichen Spezies handelte. Die neuen Fossilien zeigen nun, dass die charakteristischen Merkmale des Fossils 1470, das lange und eher flache Gesichts mit den vorstehenden Wangenknochen, keine individuelle Variation sondern ein eigenständiges Muster seiner Gesichtsanatomie darstellt.
Der neu gefundene Gesichtsschädel ist eine kleinere Version des charakteristisch flachen und großen Gesichts von Fossil 1470. Darüber hinaus hat der neue Gesichtsschädel einen sehr gut erhaltenen Gaumen und Backenzähne. Die Backenzähne ermöglichen es uns, die neuen Unterkiefer sowohl mit dem neuen Gesichtsschädel als auch mit Fossil 1470 in Verbindung zu bringen. Zusammen liefern uns diese Fossilien Argumente dafür, dass neben Homo erectus noch wenigstens zwei weitere Arten des frühen Homo zu jener Zeit in Ostafrika lebten.
Die internationale Wissenschaftlergruppe um Meave Leakey will sich nicht festlegen, zu welcher Art die neuen Fossilien genau gehören. Sowohl Homo rudolfensis als auch Homo habilis kämen in Frage. Die neuen Funde können klar von Homo erectus und in zwei Gruppen unterschieden werden. Die Forscher verweisen auf den 1960 von Louis Leakey beschrieben Urahnen namens OH7, der sich deutlich von 1470 unterscheidet. Aber solange die Bezeichnungen noch unklar sind, verzichten sie lieber auf eine Namensgebung.
Menschwerdung
Erectus ist wohl ein direkter Vorfahre von uns, dem anatomisch modernen Menschen, Homo sapiens. Wann die für uns typischen Merkmale wie große Gehirne, kleine Gesichter und Zähnen sowie die langen Beine entstanden, oder ob die Fähigkeit mehrere Kinder während eines langsamen Erwachsenwerdens zu versorgen sich Zug um Zug während unserer Evolution entwickelte, oder ob diese Charakteristika entscheidend für die Entstehung unserer Abstammungslinie sein könnte - vorerst bleiben noch viele Fragen offen. Aber je mehr wir über die Urahnen unserer Spezies erfahren, umso mehr wissen wir über unsere Herkunft und damit über uns selbst.
Es zeichnet sich immer deutlicher ab: Unser Stammbaum verläuft nicht in gerader Linie, sondern in paralleler Vielfalt verschiedener Zweige, von denen viele ins Leere verlaufen. Sehr komplex und mit parallel existierenden Menschen-Arten, die vermutlich verschiedene ökologische Nischen besetzten. Zu unseren direkten Vorfahren wurden diejenigen, die sich beim evolutionären Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit durchsetzten.
Im Mosaik der Menschwerdung sind die aktuellen Erkenntnisse wieder neu eingesetzte Steine, die das Bilder erneut klarer werden lassen. Fred Spoor vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der die Fossilien aus Kenia wissenschaftlich analysierte, kommt zu dem Fazit:
Jetzt ist klar, dass zwei weitere frühe Vertreter der Gattung Homo neben Homo erectus lebten. Die neuen Fossilien werden uns dabei helfen aufzudecken, wie unser Zweig der menschlichen Evolution vor fast zwei Millionen Jahren entstand und zu blühen begann.