Neues vom wilden Mann

Jubiläumsjahr des Neandertalers geht zu Ende

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

1856 fanden Steinbrucharbeiter in der Nähe von Düsseldorf die Knochen einer Menschenart, die nach dem Fundort Neandertaler genannt werden. Seither hat sich das Bild dieses frühen Europäers, der noch eine ganze Weile Seite an Seite mit dem modernen Menschen lebte, gründlich gewandelt. Zum 150-Jahre-Jubiläum gab es zahlreiche Ausstellungen und Events – und brandneue Erkenntnisse über den Homo sapiens neanderthalensis.

Die Anthropologen sind sich darüber einig, dass ein Neandertaler heute mit Jeans und T-Shirt bekleidet in einer Großstadt nicht weiter auffallen würde. Er war durchschnittlich nur etwa 1,60m groß, hatte stärkere Knochen und war untersetzter als der moderne Mensch, außerdem hatte er einen langen und abgeflachten Schädel mit niedriger Stirn, starke Überaugenwülste sowie ein fliehendes Kinn – aber ansonsten sah es uns sehr ähnlich. Sein Gehirn hatte allerdings ein größeres Volumen als das des Homo sapiens sapiens. (Die Neandertaler: Eine hochspezialisierte Art).

Wissenschaftliche Rekonstruktion eines Neandertalergesichts (Bild: Rheinisches Landesmuseum Bonn)

Nach anfänglichen Diskussionen 1856, die den Knochen nur ein geringes Alter zugestanden, sie als Überreste eines „rohen Urvolk, ...welches vor den Germanen das nördliche Europa bewohnt hat“, oder sie gar als die eines modernen, an Rachitis erkrankten Menschen einordnete (Zur Geschichte des Neandertalerfundes), herrschte lange das Bild eines rohen Halbaffen, eines wilden Mannes ohne Sprache und Kultur in den Köpfen. Gerne wurde der Neandertaler als stark behaartes Wesen dargestellt, das in gebückter Körperhaltung mit einer Keule in der Hand durch die Gegend schlich (Illustration Neandertaler). Das Neanderthal-Museum in Mettmann stellt klar:

Beides ist falsch: die gebückte Körperhaltung geht auf falsche Skelettrekonstruktionen zurück, für die Keule gibt es keinen einzigen archäologischen Nachweis.

150 Jahre nach dem Fund im Neandertal ist der engste Verwandte des modernen Menschen ein Superstar. Von seiner Popularität will nun auch die Politik profitieren: Der Kreis Mettmann hat vor sich, sich künftig "Neandertal-Kreis Mettmann" zu nennen, das soll die Bekanntheit der Region steigern und die Identifikation (Soll der Kreis Mettmann umbenannt werden?). Aber wer war dieser Mensch, der mindestens 100.000 Jahre lang Europa besiedelte, und vor ungefähr 25.000 Jahren ausstarb, nachdem er Jahrtausende lang parallel mit dem aus Afrika (Out of Africa) zugewanderten Homo sapiens sapiens existiert hatte?

Im Jubiläumsjahr des Fundes widmeten sich Ausstellungen und ein Kongress diesem Thema (Neanderthaler und Co.). In diesem Rahmen wurden gleich zwei frische Gesichter des Ureuropäers präsentiert, die beide verdeutlichen, wie nahe uns dieser andere Mensch steht. Zum einen zeigte das Rheinische Landesmuseum Bonn im Rahmen der Ausstellung Roots - Wurzeln der Menschheit eine neue Rekonstruktion, zum anderen das Neanderthal-Museum in der Sonderausstellung "Hautnah. Neanderthaler" eine ebenso wissenschaftlich fundierte Interpretation des Aussehens. Außerdem werden seit diesem Jahr viele Fundstücke und Daten durch die Plattform Nespos (Neanderthal Studies Professional Online Service) online für die Experten zugänglich gemacht. Über die Internet-Forschungsdatenbank sollen alle Daten von Fundstellen sowie Scans, Bilder und 3D-Modelle von Fossilien und Artefakten zur Verfügung gestellt werden.

Aktuelle Rekonstruktion des Aussehens des Neandertalers (Bild: Neanderthal Museum/M. Pietrek)

Der Neandertaler war kein Keulen schwingendes Ungeheuer, sondern ein Kulturwesen, das durchaus technisch raffinierte Stein- und Knochenwerkzeuge herstellte. Er erfand die Herstellung von Birkenpech als Klebstoff (Alleskleber aus der Steinzeit) und bemalte seinen Körper mit Pigmenten. Außerdem trug er sicherlich Kleidung, pflegte kranke Angehörige und bestattete wahrscheinlich seine Toten (Die Bestattungen der Neandertaler).

Ob er auch als eiszeitlicher Künstler aktiv war, bleibt vorerst umstritten (Steinzeitkünstler Neandertaler?). Er kommunizierte über Sprache und Steven Mithen von der University of Reading vermutet, dass er auch gesungen hat (The Singing Neanderthals:the Origins of Music, Language, Mind and Body). Seine Stimme war wahrscheinlich sehr laut und klang weiblich – das schlossen Wissenschaftler jedenfalls aus Rekonstruktionen seines Kehlkopfes (Konnte der Neandertaler sprechen?).

Enge Verwandtschaft

Es wird noch darüber debattiert, wann der Neandertaler genau auftauchte, aber sicher ist, dass er sich aus früheren Europäern wie dem Homo heidelbergensis entwickelte. Mindestens 100.000 Jahre lang lebte er als Jäger und Sammler, seine Anatomie war den eiszeitlichen Bedingungen des damaligen Europas gut angepasst. Aber dann kam vor etwa 40.000 Jahren der moderne Mensch, der ihn wahrscheinlich nicht in einem steinzeitlichen Krieg besiegte, sondern langsam verdrängte (Neandertaler: Fand der erste Weltkrieg vor 40.000 Jahren statt?). Beide Menschenformen lebten nachweislich in einigen Regionen über lange Zeiten gleichzeitig, wobei Europa damals so dünn besiedelt war, dass sie sich wahrscheinlich nur sehr selten begegneten (Multikulti in der Feengrotte). Der moderne Mensch war wohl kulturell überlegen und flexibler. Er lebte in größeren Gruppen zusammen, kommunizierte intensiver und entwickelte Techniken wie bessere Kleidung sowie effektivere soziale Netzwerke. Das Klima verschlechterte sich, es wurde kälter und die Wettbewerbsnachteile führten langsam zum Verschwinden des Neandertalers (vgl. Neanderthal climate preferences and tolerances: the need for a better chronology). Der Neandertaler zog sich immer weiter in den Süden Europas zurück, seine Spur verliert sich vor ca. 25.000 Jahren endgültig in Gibraltar. Offen bleibt die Frage, ob er genetische Spuren in uns heutigen Menschen hinterließ. War der Homo sapiens neanderthalensis wirklich ein Bruder des Homo sapiens sapiens, der ohne Nachkommen starb?

Feierte auch der Neandertaler schon Weihmachten? (Bild: Kreis Mettmann)

Die große Mehrheit der Paläoanthropologen hielt bis vor kurzem den Neandertaler nicht für einen Urahn der heute noch lebenden Menschen. Analysen der mitochondrialen, nur von den Müttern vererbten DNS wiesen darauf hin, dass er ausstarb, ohne Einzug in unser Erbgut gehalten zu haben (Kein liebevoller Neandertaler in uns).

Bis 2008 hat sich ein internationales Forscherteam zum Ziel gesetzt, das Neandertaler-Genom komplett entschlüsselt zu haben (Entschlüsselung des Neandertalergenoms). Jetzt liegen bereits erste Ergebnisse vor, die Forscher haben bereits die erste Million Basenpaare des Genoms entschlüsselt (Sequencing and Analysis of Neanderthal Genomic DNA).

Durch eine in den USA entwickelte Technik gelang es den Paläogenetikern um Svante Pääbo, aus fossilen Knochen und Zähnen DNS zu entnehmen, um Erbgut aus dem Zellkern zu vervielfältigen und anschließend zu sequenzieren Als besonders geeignet erwiesen sich 38.000 Jahre alte Neandertaler-Knochen, die in der Vindija-Höhle in Kroatien gefunden worden waren. Da das Material sowohl X- als auch das Y-Chromosom enthielt, handelte es sich klar um einen männlichen Neandertaler.

Dieser erste Schritt erlaubt zwar erst einen Einblick in 0,04 Prozent des gesamten Neandertaler-Genoms, aber es ergaben sich Zweifel an dem Befund aus der mitochondrialen DNS, dass seit der Aufspaltung zwischen Neandertaler und modernem Menschen vor einer halben Million Jahre keinerlei Vermischung mehr stattgefunden hat. Bestimmte gemeinsame neue Genvarianten weisen darauf hin. "In etwa 30 Prozent aller Fälle besitzt der Neandertaler tatsächlich die neue Genvariante", erklärt Svante Pääbo. "Möglicherweise hat es einen Austausch von genetischem Material zwischen dem modernen Menschen und dem Neandertaler gegeben."

Kinder und Kindeskinder

Die Forschergruppe um Svante Pääbo vermutet, dass Gene nur von männlichen Homo sapiens sapiens-Individuen an den Neandertaler weitergegeben wurden. Dieser erste Schritt in Richtung Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms wurde von der Wissenschaftszeitschrift Science zum Jahresende zu einem der wichtigsten Forschungsergebnisse des Jahres gekürt. In zwei Jahren wollen die Paläogenetiker eine Rohfassung der Entzifferung des gesamten Erbgutes vorlegen.

Beide Menschentypen im Vergleich (Bild: University of Washington)

Vielleicht ist das Gen für Rothaarigkeit doch ein Erbteil des Neandertalers (Rothaarig durch Neandertaler-Gen?)? Und in diesem Jahr erschien eine wissenschaftliche Analyse, die Hinweise darauf lieferte, dass wir ausgerechnet ein wichtiges Gen für Gehirnwachstum von unserem angeblich Keulen schwingenden Verwandten geerbt haben (Evidence that the adaptive allele of the brain size gene microcephalin introgressed into Homo sapiens from an archaic Homo lineage).

Dass Homo sapiens sapiens-Männer mit Neandertalerfrauen möglicherweise doch Nachkommen zeugten, ist Wasser auf die Mühlen von Erik Trinkaus, der seit langem als Außenseiter unter den Paläontologen die These der Vermischung der beiden Menschenarten vertritt. Die neuen Erkenntnisse dieses Jahres, zu denen auch die Entdeckung der Spuren der letzten überlebenden Homo sapiens neanderthalensis an der Südspitze Spaniens gehört, die auf jeden Fall jünger als 30.000 Jahre sind, machen seine bislang eher belächelte Theorie plötzlich wahrscheinlicher (Letzte Zuflucht Gibraltar).

Nach der Überzeugung von Erik Trinkaus ist das versteinerte Skelett des Kindes von Lagar Velho, einem portugiesischen Fundort, ein schlagender Beweis für die Existenz von Mischtypen beider Menschenformen, denn es weist Merkmale sowohl des Neandertalers als auch des anatomisch modernen Menschen auf (Das "Kind von Lagar Velho" löst Streit um Evolution aus).

Die Wissenschaftswelt war damit nicht zu überzeugen, denn Kinderskelette sind immer schwer zuzuordnen und außerdem sind die Knochen ungefähr 25.000 Jahre alt – und bislang gingen die Experten davon aus, dass der letzte Neandertaler vor 30.000 Jahren endgültig abtrat. Aber diese Einschätzung musste im Jubiläumsjahr revidiert werden. Und Trinkhaus legte vor einigen Monaten zusammen mit rumänischen Kollegen neue Beweise vor: Das Skelett einer vor 30.000 Jahren verstorbenen Frau, das bereits vor mehr als 50 Jahren in der Pestera Muierii (Weiberhöhle) in Rumänien gefunden, aber nie genau analysiert wurde (Early modern humans from the Pestera Muierii, Baia de Fier, Romania).

Schädel der Frau aus der Höhle Pestera Muierii, der Merkmale beider Menschentypen aufweisen soll (Bild: PNAS)

Die versteinerten Knochen der Frau weisen nach Meinung des Teams um Trinkaus Attribute beider Menschenarten auf, typisch für den Homo sapiens sapiens ist zum Beispiel der kleinere Kiefer mit ausgeprägten Eckzähnen und die enge Öffnung der Nase, ganz dem Homo sapiens neanderthalensis entspricht dagegen die niedrige, fliehende Stirn und die starken Augenbrauenwülste. Eine ähnliche Hybridform entdeckten die Forscher auch in ihrem Schulterblatt.

Die Fachwelt bleibt skeptisch – weitere Forschungen müssen erst erweisen, ob es wirklich Sex zwischen Neandertaler und modernem Mensch am Höhlenlagerfeuer gab, der nicht ohne Folgen blieb.

Kannibalen im Neandertal

Immer wieder gilt es, Forschungsergebnisse zu hinterfragen und zu überprüfen. Im Jubiläumsjahr wurde unter anderem die Vorstellung ad acta gelegt, der Homo sapiens neanderthalensis habe eine kürzere Kindheit und Jugend als der anatomisch moderne Mensch gehabt. Eine eingehende Untersuchung des Aufbaus seiner fossilen Zähne mittels hoch auflösender Computertomografie verdeutlichte, dass er genauso lange wie wir brauchte, um erwachsen zu werden (How Neanderthal molar teeth grew).

Ein Fleischesser war der frühe Europäer, seine Kost soll fast ausschließlich daraus bestanden haben (Neandertaler aßen fast nur Fleisch). Jetzt hat sich erneut bestätigt, dass der Neandertaler zumindest ab und zu Kannibalismus ("Ich rieche, rieche Menschenfleisch…") praktizierte, wie die Untersuchung von menschlichen Knochen in einer Höhle in Nordspanien zeigte. Ob aus schierem Hunger oder rituellen Gründen ist unbekannt, aber spanische Forscher konnten anhand der Zähne nachweisen, dass die dort gefundenen Homo sapiens neanderthalensis an Mangelernährung litten (Paleobiology and comparative morphology of a late Neandertal sample from El Sidron, Asturias, Spain).

Es bleibt also auch nach 150 Jahren Neandertalerforschung spannend. Mehr über den Alltag und die kulturellen Ausdrucksformen unseres nächsten menschlichen Verwandten zu erfahren, bleibt eine Herausforderung für die Wissenschaftler.