Jens Spahn, Hartz IV und die scheinheilige Kritik der SPD

Die Äußerungen des designierten Gesundheitsministers stoßen bei Sozialdemokraten auf Ablehnung. Aber warum eigentlich?

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Nach den umstrittenen Äußerungen des designierten Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU) zu Hartz IV und Armut ist die Empörung groß. Spahn hatte mit seiner Einlassung, mit Hartz IV habe "jeder das, was er zum Leben braucht", von vielen Seiten Kritik provoziert. Vor allem Vertreter des Koalitionspartners SPD wiesen die Einschätzung Spahns zurück, ohne freilich auf die eigene Rolle bei Durchsetzung und Aufrechterhaltung der neoliberalen Arbeitsmarktreformen und der damit wachsenden sozialen Kluft einzugehen.

SPD-Vizevorsitzender Ralf Stegner sagte der Frankfurter Rundschau, die Unterschiede zwischen Arm und Reich hätten ein solches Ausmaß erreicht, "dass man solche Äußerungen nicht machen kann, wie Spahn sie macht". Der SPD-Mann und amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sekundierte in der Rheinischen Post: "Unser Ziel muss höher gesteckt sein, als dass die Menschen von Hartz-IV oder anderen Transferleistungen leben." Wichtig sei, dass die Menschen von ihrem Einkommen aus Arbeit leben können, so Steinmeier weiter. Der künftige SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil kritisierte "kaltherzige Statistikdebatten" und forderte "sozialen Zusammenhalt".

Einen Fürsprecher fand Spahn, der seine Äußerungen heute verteidigte, in Alexander Dobrindt. Hartz IV sei eine Solidarleistung "zur Sicherung der Lebensgrundlagen", sagte der CSU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag. "Natürlich kann man davon leben", sagte FDP-Chef Christian Lindner.

Die Zahlen lieferte der Paritätische Gesamtverband in einem Aufruf zum Thema: Die Zahl derer, bei denen Einkommen und Sozialleistungen nicht im Mindesten ausreichen, um Armut zu verhindern, werde zunehmend größer, heißt es dort. Dies betreffe Wohnungslose, in Altersarmut Lebende, prekär Beschäftigte, Alleinerziehende, Erwerbslose und Geflüchtete. "Die Regelsätze in Deutschland sind zu gering bemessen, um grundlegende Bedürfnisse abzudecken. Für Ein-Personen-Haushalte und Alleinerziehende sieht der Hartz IV-Regelsatz täglich 4,77 Euro für Essen und alkoholfreie Getränke vor. Für Kinder im Alter unter sechs Jahren sind 2,77 Euro vorgesehen, für Kinder von sechs bis 14 Jahren 3,93 Euro", rechnet der Verband vor.

Dessen Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider bezeichnete die Kritik von Koalitionspolitikern als "zu Teilen scheinheilig". Spahn gebe schließlich nur die offizielle Meinung von Union und SPD wieder.

In der Tat kamen ähnliche Urteile wie vom Polit-Provokateur von beiden Seiten der Großen Koalition. Eine Auswahl:

  • "Nur weil jemand auf nur 600 Euro Altersrente kommt, muss er ja nicht arm sein." - Franz Müntefehring (SPD);
  • "Wenn Sie was Ordentliches gelernt haben, brauchen Sie keine drei Minijobs." - Peter Tauber (CDU);
  • "Die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie."- Philipp Mißfelder (CDU);
  • "Wenn Sie sich waschen und rasieren, haben Sie in drei Wochen einen Job." - Kurt Beck (SPD)

Im Internet wurde inzwischen eine Petition initiiert, die Jens Spahn auffordert, selbst zumindest einen Monat vom Hartz-IV-Regelsatz von 416 Euro zu leben. Initiiert wurde die Aktion, die bereits von über 62.000 Menschen unterstützt wird, von einer alleinerziehenden Hartz-IV-Empfängerin aus Karlsruhe.

Ironischer reagierte das Satire-Magazin Postillon, das eine Fotomontage Spahns in einem Nobelrestaurant zeigt. "Selbsttest im Restaurant", steht da: "Jens Spahn beweist, dass man von 416 Euro Hartz IV locker satt wird."