Jetzt neu: Benjamin von Stuckrad-Tucholsky
"Ich bin weit über zwei Meter groß, ich bin aus Gummi, und die Menschen zeigen mit dem Finger auf mich."
Popliteratur - bäh! Benjamin von Stuckrad-Barre - extra bäh! Kein Trend in der deutschen Literatur-Landschaft wurde so hitzig und vehement diskutiert wie die so genannte Popliteratur. Kein junger deutscher Autor hat in den letzten zehn Jahren mit seinem Auftreten und Werk derart polarisiert wie Benjamin von Stuckrad-Barre. Bewunderung oder Verachtung für den selbstverliebten Jungschreiber - dazwischen gab's nicht viel. Nun hat der Kolumnen-Verfasser, MTV-Moderator und Prosa-Popstar ein neues Buch geschrieben. Und alles ist anders.
Das Buch heißt "Deutsches Theater". Es ist fast 300 Seiten dick, der Umschlag sieht aus wie mit Tusche hastig dahin gemalt und drinnen gibt es neben etwa 40 Texten (teilweise schon erschienen in der FAZ, im Stern und der Welt am Sonntag) zahlreiche Fotos, die Stuckrad-Barre mit einer Digitalkamera aufgenommen hat. Der Autor selbst ist (leider) auf keinem Bild zu sehen. Das Buch handelt von Deutschland, von Wahlkampfveranstaltungen, Aktionärsversammlungen, Formel 1-Rennen, Musikern und Drogenfahndern. Es handelt nicht von Benjamin von Stuckrad-Barre. Es ist ein sehr wortgewaltiges Buch, nur ein Wort kommt verhältnismäßig selten darin vor: ICH.
Das Buch entstand auf Reisen. Stuckrad-Barre fuhr quer durch die Republik, mal nach Sylt zu Gosch, der "nördlichsten Fischbude Deutschlands", mal nach Berlin zu Manfred Krug, mal nach Braunschweig in die Redaktion einer Abi-Zeitung und ganz oft einfach so rum. Dabei hat er mit Menschen gesprochen, Menschen beobachtet und überhaupt die Augen und Ohren ganz weit aufgerissen. Nebenbei hantierte der 26-Jährige Wahl-Berliner mit einer Digitalkamera herum - fotografierte, was ihm so vor die Linse kam. Das war einiges und die Fotos sind sehr schön geworden. Ganz klar und ohne Firlefanz. Einfache Abbilder mit hintergründiger Symbolik. Schlaue Schnappschüsse. Ich bin weit über zwei Meter groß, ich bin aus Gummi, und die Menschen zeigen mit dem Finger auf mich.
Die Texte sind sehr schön. Es sind die besten, die bisher von Benjamin von Stuckrad-Barre in gebundener Form zu lesen waren. Und sie sind besser als das meiste, was man sonst so zu lesen bekommt. Nur mit Literatur haben sie kaum etwas zu tun. "Deutsches Theater" ist eine journalistische Reportagen-Sammlung, mit investigativen, scharf beobachtenden und präzise formulierten Artikeln. Selten wird kommentiert, meistens werden die Menschen und Situationen so effektiv seziert, dass sich alles und jeder von selbst erklärt. Das können nur wenige auf diesem Niveau. Nehmen wir die Geschichte über Helmut Karasek. Stuckrad-Barre besuchte den Literaturkritiker zu Hause, begleitete ihn zum Literarischen Quartett und blieb bis zum Umtrunk nach der Sendung. Die Geschichte endet damit, wie ein angesoffener Karasek Rotwein auf einem wertvollen Gästebuch verschüttet, daraufhin hektisch auf dem Papier rumwischt und "man sieht doch gar nichts" lallt.
Ganz selten wird der dandyeske Schreiber künstlerisch. Dann schreibt er zum Beispiel haarklein das Gespräch nieder, das er mit Claus Peymann - dem Intendanten des Berliner Ensembles - führte, als dieser sich versuchte eine Hose zu kaufen. Der Beinkleiderwerb scheiterte, das schnoddrige Yuppie-Drama "Claus Peymann kauft sich keine Hose, geht aber mit essen" wurde in der Harald Schmidt-Show uraufgeführt und später am Berliner Ensemble gezeigt. Das gab Presse! "Kinderkacke", sagten da die Stuckrad-Barre-Kritiker. Inhaltsloser, selbstverliebter, elitärer Pseudo-Intellektuellen-Quark war für sie das Stück. Das war auch Quatsch.
Und überhaupt nimmt der Vielgescholtene seinen Kritikern mit seinem fünften Buch reichlich Wind aus den Segeln - zumindest was sein geschriebenes Werk angeht, denn das ist diesmal besser denn je. Dass Stuckrad-Barre schreiben kann, war aber eigentlich schon immer klar - man lese nur Artikel aus seiner Zeit beim Rolling Stone oder so manche Passage aus seinen Büchern und Artikeln, die zuweilen vor Ideenreichtum und Eloquenz nur so funkelten - zuweilen, bei weitem nicht immer. Trotzdem fielen viele gerne in einen Was-der-schreibt-kann-ich-auch-und-ich-bin-nicht-berühmt-Sermon ein, wobei nur allzu oft Misstöne von Neid und beleidigter Pampigkeit mitschwangen. Und diese ewige Diskussion darüber, ob das alles nun etwas mit Literatur zu tun hat oder nicht - müßig.
Sehr wohl zu kritisieren war jedoch sein permanentes inhaltliches Kreisen um den eigenen Mikrokosmos, dem der Ex-Gagschreiber der Harald Schmidt-Show in seinen ersten vier Büchern so sehr verfallen war. Dieses endlose Lamentieren und Monieren aus der Ich-Perspektive, was seinen schmerzenden Höhepunkt in dem aufgeblasenen Befindlichkeits-Büchlein "Royal Tristesse" fand, das Stuckrad-Barre zusammen mit seinen nicht minder poppigen Kollegen Kracht, Bessing, Kracht, Nickel, und Schönburg-Glauchau initiierte. Das alles und auch der etwas hilflose Literatur-Kalauer "Lesezirkel" auf MTV stank nach Selbstgerechtigkeit, Ignoranz, Egomanie und passte nur zu gut zu seinem überkandidelten Auftreten und arrogant-elitären Gehabe. Es gibt viele gute Gründe, Benjamin von Stuckrad-Barre zu hassen.
Nun aber ein paar weniger. Denn das Ich ist weg und kommt nur wieder, wenn Stuckie politisch wird. Politisch? Der? Sehr wohl. In Günther Wallraff-Manier hat er sich für die Protokollierung des deutschen Theaters als Hilfsarbeiter bei Gosch einstellen lassen:
Meine beiden Kollegen sprechen kaum Deutsch, Jürgen Gosch inzwischen auch nicht mehr, es kommen nur noch cholerische Geräusche aus ihm heraus, er herrscht mich an, weil ich die Bänke nicht exakt parallel zur Transportertür auf den Boden lege...WEISST DU WAS, KERL? DU PACKST JETZT DEINE SACHEN, JETZT, SOFORT, LASS DICH HIER NIE WIEDER BLICKEN!
Und er lief als überdimensionales Gummi-Handy durchs Berliner Olympiastadion - kurz vor Anpfiff:
Ich bin weit über zwei Meter groß, ich bin aus Gummi, und die Menschen zeigen mit dem Finger auf mich. Ich soll ihnen zuwinken. Sie lachen mich aus...
Der Pop-Schnösel beim Fronteinsatz. Er kraucht da herum, wo sonst keiner freiwillig hin will, berichtet, was für unzählige Unprivilegierte Alltag ist. Das ist politisch. Und das ist nicht mehr der piefige Stuckrad-Barre, der über trauriges Onanieren unter der Dusche ("Soloalbum") oder das Elend als tourender Vorleser ("Livealbum") schreibt.
"Deutsches Theater" wird seinem Anspruch gerecht, "die Inszenierung des öffentlichen Lebens, das Rollenspiel auch im Privaten, die Kostümierung, die permanente Bühnensituation" zu beschreiben. In dem der Autor von links nach rechts, von oben nach unten durch Land und Gesellschaft reist und pointiert über seine Erlebnisse berichtet, entsteht ein scharf gesetztes Mosaik, ein buntes, tiefgründiges und unterhaltsames Bild über Deutschland und die Menschen, die hier leben. Kurt Tucholsky hat ähnliches in Zusammenarbeit mit dem Fotografen John Heartfield schon 1929 gemacht. Tucholsky stellte seine Texte über das Land in dem er lebte, das er gleichzeitig liebte und verabscheute, neben Heartfields Fotomontagen. Er nannte des Buch "Deutschland, Deutschland über alles". Es war eines seiner letzten Werke. Als es erschien, war der umstrittene Polemiker und yuppieske Bildungsbürger 39 Jahre alt und am Ende seiner Karriere.
Benjamin von Stuckrad-Barre mit Kurt Tucholsky zu vergleichen ist schierer Wahnsinn - tun wir es doch mal: Beide polemisieren, beide polarisieren, beide scharen Bewunderer und Verächter gleichermaßen um sich. Und wie Kurt Tucholsky versteht sich Benjamin von Stuckrad-Barre neuerdings hervorragend darauf, eloquent und klar Beobachtungen zu Papier zu bringen, und mit wenigen Worten Situationen eindringlich zu beschreiben, die der Schreiber-Masse entgehen. Selbstredend, dass er dabei noch lange nicht die Schärfe, Originalität und Durchschlagskraft Tucholskys erreicht. Aber Benjamin von Stuckrad-Barre ist 26 Jahre alt. Tucholsky war am besten in seine frühen 30ern. Und Kurt Tucholsky wurde Zeit seiner Karriere verlacht als überheblicher Aufschneider und weltfremder Besserwisser.