John Pilger: Wahrheitssucher, Wahrheitsfinder – oder "Trutherist"?
Kampf für Medienfreiheit: Pilger blieb bis zum Schluss erklärter Freund des inhaftierten Julian Assange. Seine Arbeit war auch scharfer Kritik ausgesetzt. Was ist dran?
Es war im Dezember 2010. Der seinerzeit aktuelle Dokumentar-Film von John Pilger "The War You Don't See" war gerade erstmals gezeigt worden. Darin im Gespräch zwei Männer aus Australien, die sich immer wieder im Kampf für Medienfreiheit als einer wichtigen Säule von Demokratie sahen.
Pilger hatte damals ausführlich seinen Landsmann Julian Assange zu dessen Kriegs-Enthüllungen interviewt. Also den Wikileaks-Gründer, seinerzeit noch Chef der Plattform und auf freiem Fuß.
Das Recht der Öffentlichkeit
John Pilger, der kürzlich im Alter von 84 Jahren gestorben ist, verteidigte zu jener Zeit und auch fürderhin den Ansatz von Assange gegen wachsende Kritik und Anfeindungen vor allem aus dem US-Establishment mit dem Hauptargument, die Öffentlichkeit habe das Recht, mutmaßliche Regierungsgeheimnisse zum Beispiel zu den US-geführten Kriegen und entsprechenden mutmaßlichen Kriegs-Verbrechen in Irak und Afghanistan zu erfahren.
Zumal, wenn solche Geheimnisse unser aller demokratische Rechte beeinträchtigten. Was Assange und Wikileaks damals machten, sei, so Pilger, im Kern Journalismus – Dinge zu recherchieren und zu veröffentlichen, von denen typischerweise Mächtige gerade nicht wollten, dass sie publik würden.
Verteidiger der Medienfreiheit
Pilger stand Assange in den Jahren danach bis in die Gegenwart immer wieder zur Seite, besuchte ihn in dessen Not-Exil in der Botschaft Ecuadors in London und forderte permanent sowie vehement die Freilassung des seit bald fünf Jahren in Isolation im britischen Hochsicherheits-Gefängnis von Belmarsh Inhaftierten. Pilger verstand sich bis zum Schluss als Freund von Assange.
John Pilgers Motto als Journalist und zugleich Aktivist war:
Es ist nicht genug, wenn sich Journalisten als bloße Überbringer von Botschaften sehen, ohne dabei die verborgenen Absichten, Rahmenbedingungen und Vorgaben (‚hidden agendas‘) der Botschaft zu verstehen sowie jene Mythen, welche die Botschaft umgeben.
Das weist auf zwei Aspekte von Pilgers Schaffen hin, die immer wieder auch Gegenstand von Kritik wurden, nicht nur von reaktionärer Seite: Sein ausdrücklicher Hang zum Aktivismus, zum Ergreifen von Partei also, und sein sich womöglich verselbständigt habendes Suchen nach – von offizieller Seite jedenfalls versteckter – Wahrheit. Dazu später mehr.
Kritik vor allem der US- und der britischen Außenpolitik
Ähnlich wie der andere berühmte Medienschaffende aus Australien, Julian Assange, wird John Pilger von seinen Anhängern bewundert dafür, wofür er von seinen Gegnern massiv abgelehnt wird: für eine deutliche und auch deutlich medienwirksame Kritik vor allem der US- und der britischen Außenpolitik der vergangenen Jahrzehnte. Im Falle von John Pilger sogar rund ein gutes halbes Jahrhundert lang.
Pilger war in Zeitungen wie Daily Mirror sowie später The Guardian und in seinen Dokumentar-Filmen zu einer immer stärkeren Stimme für jene Vielen geworden, die keine oder kaum eine Stimme haben – und damit zwangsläufig zu einem Dorn im Auge der Wenigen, die das Sagen haben.
Das ist bemerkenswert, sowohl mit Blick auf Pilger als auch auf Assange: Journalismus muss ja nicht gelesen werden im Sinne des Konzeptes von Medien als "vierter Gewalt" neben den drei anderen Staatsgewalten, zur Unterstützung von Staat und Nation.
Die Rolle des Journalismus: Stimme der Stimmlosen
Sondern Journalismus ist laut Edmund Burke eingangs des 19. Jahrhunderts und mit Bezug auf die Französische Revolution zunächst und vor allem als fourth estate zu verstehen, also als jener "vierte Stand", der bisher noch gar keine Stimme hatte. Pilger war in diesem Sinne unterwegs: Journalismus als Stimme der Stimmlosen.
Im Jahr 2006 zum Beispiel sagte er während einer Podiumsdiskussion in New York, dass "Journalisten im sogenannten Mainstream einen großen Teil der Verantwortung" für die Verwüstungen und den Verlust von Menschenleben im Irak-Krieg trügen, weil sie "die Lügen von Bush und Blair" (den damaligen Regierenden in den USA und Großbritannien, d.A.) nicht infrage stellten und aufdeckten.
Beträchtliche Wirkung
Die Wirkung von Pilgers Journalismus war beträchtlich. Sowohl mit seinen Texten, vor allem aber war es wegen der Wirkmächtigkeit bewegter Bilder die Strahlkraft seiner Filme. Die erschütternden Bilder von ausgemergelten Kindern und Ärzten in Kambodscha, die Ende der 1970er-Jahre dort um ihr Überleben kämpften, waren anschließend in Pilgers Dokumentarfilm "Year Zero: The Silent Death of Cambodia zu sehen".
Der Film wurde in 50 Ländern von rund 150 Millionen Zuschauern gesehen. Er gewann mehr als 30 internationale Preise.
Oft gelang es ihm, aus Sicht der Unterdrückten und Unterprivilegierten menschliche Tragödien politisch sowie historisch einzuordnen. Er wurde mehrfach ausgezeichnet als "Journalist des Jahres" in Großbritannien, seiner Wahlheimat seit 1962 (wo er zunächst einfacher Redakteur bei der Nachrichtenagentur Reuters gewesen war).
Auch den Medien-Friedenspreis der Vereinten Nationen erhielt John Pilger.
Aufziehende Auseinandersetzungen
Zugleich gab es, tendenziell aus Perspektive der Herrschenden, Kritik an seiner Arbeit. An Details seiner Beiträge, aber auch an seiner Haltung insgesamt. Das bestimmte seit ca. 1970 einen Rahmen für aufziehende Auseinandersetzungen wegen Vorwürfen mangelnder Ausgewogenheit und Unparteilichkeit.
Pilger wies entsprechende offizielle Forderungen nach Objektivität zurück, als "Code für die Sicht des Establishments auf die Welt, an dem die meisten Perspektiven gemessen werden".
Etliche der Dokumentar-Filme John Pilgers deckten massive Menschenrechtsverletzungen auf. Unter großem persönlichem Risiko waren er und sein Lieblings-Regisseur David Munro immer wieder auch in Länder gereist, die von Militärdiktaturen regiert wurden.
In "Death of a Nation: The Timor Conspiracy (1994)" interviewte er Augenzeugen des Völkermords durch das indonesische Besatzungsregime in Osttimor und enthüllte ein weiteres Massaker. Ähnlich im heutigen Myanmar.
Kritik an Pilger: Der Vorwurf des "Trutherismus"
Offenkundig waren tatsächliche oder mutmaßliche oder scheinbare Verschwörungen, typischerweise verborgener, machtvoller Zirkel gegen die Massen ein wichtiges Thema, das sich durch John Pilgers Publikationen zog. Wahrheitssuche auf sehr bestimmte Weise.
Die heftigste Ablehnung ihm gegenüber kam von rechts und von rechts außen. Aber nicht nur von dort gab es Kritik an einer zunehmend verhärtet wirkenden Wahrheitsauffassung.
In gewisser Weise scheint sich John Pilgers Streben nach "der Wahrheit" verselbständigt zu haben, bis hin zu einem ihm vorgehaltenen "Trutherismus", der sogenannte "Mainstream-Narrative" von vornherein ablehnt.
Schlichte oder schlechte Negation
Mit Hegel könnte man das eine schlichte oder schlechte Negation nennen – etwas scheint schon allein deshalb falsch, weil es Mächtige der westlichen Welt verlauten (lassen).
Das bringt jedoch mindestens zweierlei Probleme mit sich:
1. Man könnte dazu neigen, sich im Einzelfall gar kein differenziertes Urteil mehr zu bilden über einen bestimmten Sachverhalt. Kaum noch offen zu sein für erfahrbar Widersprüchliches.
2. Man mag dann, vielleicht nolens volens, rasch bei der damit scheinbar richtigen Gegenposition landen – was etwa die Staatsmacht Russlands oder Chinas im Sinne ihrer Propaganda einer US-offiziellen Sicht entgegensetzen. Und man mag sich vielleicht dortiger Staatsmedien wie RT als Plattform bedienen wollen, um gleichsam "über Bande gespielt" im Westen eine gewisse Gegenöffentlichkeit zu erreichen.
Ein dialektisches Herangehen in Richtung einer aufhebenden Kritik von Defiziten hiesiger leitmedialer Öffentlichkeit sähe sicher anders aus.
Wobei der Fairness halber festzuhalten bleibt: Der späte John Pilger war auch in Medien wie der links-alternativen, professionellen US-Journalismus-Plattform Democracy Now präsent. Und nicht nur im russischen Staatsfernsehen.
Wachsende Polarisierung
Offenbar konnte sich aber auch ein Medien-Profi wie John Pilger kaum noch wachsender Polarisierung entziehen: Es scheint mittlerweile ja jeweils in Krisen und Konflikten nur noch zwei Pole zu geben, und dazwischen praktisch nichts mehr. Die Gegner meiner Gegner wären dann – meine Verbündeten?
Das bliebe tatsächlich eine naive, weil schlichte oder eben schlechte Negation.
Möglichst Wahrheitsgemäßes zu finden, ist anstrengend, ist aufwendig, ist Arbeit. Immer wieder, aufs Neue. Im Alltag, im Journalismus, in den Wissenschaften. Oder wie es Bertolt Brecht notierte, mit Blick auf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit:
"Keine Rede kann davon sein, dass es leicht sei, die Wahrheit zu finden".
Auch John Pilger und sein Werk zeugen davon, ebenso wie Julian Assange und dessen Schicksal.