Joseph Ratzinger und der sexuelle Missbrauch – es bleiben Fragen (Update)

Benedikt XVI. Bild (2010): Mark Bray/CC BY 2.0

Hat der nun Verstorbene externe Gutachter zu Sexualstraftaten belogen? Bericht zu Erzbistum München erschütterte Glaubwürdigkeit Ratzingers. Der nimmt wichtige Antworten mit ins Grab.

Die Nachricht vom Tod Joseph Ratzingers ging im Trubel des Jahreswechsels zunächst fast unter. Dennoch stimmte Deutschland ein großes Lamento auf das Ableben des ehemaligen deutschen Papstes an: Fahnen auf Halbmast, Trauergeläut an Kirchen, Gedenkgottesdienste, Kondolenzbücher: Wie kaum bei einem anderen Toten galt für "Benedikt XVI." das Motto "De mortuis nihil nisi bene", über Tote nichts Schlechtes.

Der Münchner Kardinal Reinhard Marx etwa sagte, er sei "traurig, aber auch dankbar für dieses große und lange Leben, das uns geschenkt wurde vom Herrn, für dieses große Lebenszeugnis, das uns begleiten wird". Ins neue Jahr sollten die Menschen laut Marx zwei "einfache und tröstliche" Sätze von Benedikt mitnehmen: "Wenn Gott Mensch geworden ist, dann ist es gut, ein Mensch zu sein" und seine Antwort auf die Frage, wie viele Wege es zu Gott gebe: "So viele, wie es Menschen gibt".

Pflichtgemäße Kritik, wenn auch verhalten, kam vom evangelischen Landesbischof aus Bayern, Heinrich Bedford-Strohm. Ratzinger habe zwar zu einem Konsensdokumentes 1999 beigetragen, schon ein Jahr später aber eine Erklärung unterzeichnet, die das Verhältnis zur evangelischen Kirche beschädigt habe, betonte der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Wie immer, wenn es um die Katholische Kirche und ihre Funktionäre geht, lagen die sexuellen Missbrauchsfälle wie ein Schatten über der Berichterstattung. Erst vor knapp einem Jahr war ein Untersuchungsbericht über derartige Sexualstraftaten im Erzbistum München veröffentlicht worden, dem Ratzinger von 1977 bis 1982 als Erzbischof von München und Freising vorstand.

Die "Bombe" vor einem Jahr

Telepolis hatte über die Untersuchung damals berichtet. Die "Bombe" war fast 2.000 Seiten dick. Interessierte können das Gutachten der Rechtsanwälte Westphal, Spilker und Wastl ("WSW") in aller Ruhe online studieren. Der Vatikan lässt sich auch Zeit.

Das Dokument sei dort "noch nicht bekannt", hieß es am 20. Januar 2022 diplomatisch vom Leiter des vatikanischen Presseamtes, Matteo Bruni. Man werde dem Dokument "gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen", beruhigte er die Gemüter.

Rom-Korrespondenten von Münchner Radiosendern kündeten am Freitagnachmittag von "Schockwellen", die durch den Vatikan laufen. Der zurückhaltenden amtlichen Reaktion des Vatikan steht ein großer Medienwirbel gegenüber, den die "Bilanz des Schreckens" der Anwaltskanzlei WSW gestern ausgelöst hat.

Beauftragt wurde das Gutachten vom Erzbistum München, was für dessen Leitung spricht. Die Zahlen zum Missbrauch-Skandal sind schnell genannt: 173 mutmaßliche Täter werden beschuldigt und 497 Opfer "sexueller Übergriffe" im Zeitraum von 1945 bis 2009 gezählt. 65 Fälle "mit festgestellten Fehlverhalten" werden in dem Gutachten im Einzelnen dokumentiert.

Sittenbild

Das sei allerdings nur das "Hellfeld", so die FAZ mit Blick auf ein Missbrauchsgutachten in Frankreich, aus dem hervorgehe, dass es immer auch ein "Dunkelfeld" gebe, das um ein Vielfaches größer sei als aktenkundige Taten. Die Zeitung bezeichnet das WSW-Gutachten als "Sittenbild".

Der Bericht schließt mit einer Beobachtung aus der Pressekonferenz zum Gutachten. Die Plätze, die für die Betroffenen reserviert waren, waren bis auf den letzten Platz besetzt. Der für den Münchner Kardinal Marx zugedachte Stuhl "blieb leer".

Das sagt schon viel. Die "da unten", die Opfer des Machtmissbrauchs, erhofften sich, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Die Vertreter von weiter oben, die Anschlussstelle zum Himmel der Seligen und Erlösten, müssen taktieren.

Ermöglicher-Kardinäle

Diesmal wird es persönlich. Das ist der Unterschied zu vielen früheren Gutachten und die Überraschung. Welche Verantwortung tragen Kardinal Friedrich Wetter, Kardinal Reinhard Marx und eben Josef Ratzinger, die das Erzbistum geleitet haben bzw. noch leiten, dafür, dass der sexuelle Missbrauch durch Seelsorger zugelassen wurde und lange Zeit verdeckt blieb? Die Aufmerksamkeit richtet sich besonders auf die Rolle, die Josef Ratzinger, von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising, in diesem "Sittenbild" einnimmt.

Erinnert sei an den hysterisch-patriotischen Jubel, mit dem Ratzingers Wahl zum Oberhaupt der römischen-katholischen Kirche im Frühjahr 2005 im Boulevard gefeiert wurde: "Wir sind Papst", lautete die mittlerweile legendäre Schlagzeile der Bild-Zeitung am 20. April des Jahres. Das ist weit weg. Heute wirft die bürgerlich-konservative FAZ dem mittlerweile emeritierten Papst vor, dass er ein Lügner sei. Begründet wird dies mit dem Gutachten.

In Kürze: Der Papst bestreitet an einer Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 teilgenommen zu haben, auf deren Tagesordnungspunkt die Bitte um die Aufnahme eines Priesters in München stand, der eine bekannte Missbrauchs-Vorgeschichte hatte. Zunächst begann der Geistliche im Rang eines Kaplans eine Therapie, war dann aber "bald wieder als Seelsorger tätig und verging sich in den folgenden Jahrzehnten an allen Einsatzorten an männlichen Heranwachsenden" (FAZ).

Josef Ratzinger bestreitet, an dieser Sitzung, die dem Priester das Plazet für seinen neuen "Tätigkeitsbereich" gab, teilgenommen zu haben. Das Protokoll der Sitzung besagt anderes. Daher der Vorwurf, dass der ehemalige Papst die Gutachter belogen habe.

Nun heißt es, dass die Antwort von Joseph Ratzinger auf die Fragen und Vorhaltungen der Anwälte lang auf sich warten ließ und dann schließlich in einem Schriftsatz von 80 Seiten erfolgte. Das ist viel Material um "Benedikts Lüge" herum. Das gibt Spielraum zum Taktieren, Entschuldigen und der Suche nach anderen noch viel schuldigeren Größen.

Rechte Katholiken

Wie das geht, zeigt ein Artikel des erzkatholischen Kath.net. Dort sucht man die Schuld im Zeitgeist von 68 - "War es nicht für uns alle unvorstellbar, in welche Abgründe die Übersexualisierung unserer Gesellschaft seit der 'Umwertung der Werte' von 1968 auch Priesterseelen stürzen würde?". Man schreibt von "angeblichen Belegen", Ratzinger betreffend, und von einer "lächerlichen Maus", die das Münchner Gutachten in die Welt gesetzt habe, "so klein, dass ihr keine römische Katze je nachlaufen würde".

Die Sprache des Gutachtens ist eine andere, sie ist abwägender und vorsichtiger. Es gehe um die "strukturellen Ermöglichungsbedingungen sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche". Als ein "sehr wesentlicher Faktor" gilt neben anderem "auch die (Nicht-)Reaktion kirchlicher Leitungsverantwortlicher auf ihnen bekannt gewordene Missbrauchs(verdachts)fälle". Ziel sei Prävention, dem Missbrauch entgegenzuwirken.

Dem stehen ganz offensichtlich Kräfte entgegen, die weiter auf Verdunkelungen und Ablenkungen setzen.

Der Fall Marx

Die Sache ist "einfach kompliziert", wie sich an der Rolle des derzeitigen Erzbischofs von München, Kardinal Marx zeigt. Das Komplizierte: Ihm wird einerseits attestiert, dass er sich, anders als andere aus dem höheren Klerus, tatsächlich den Opfern zu Gesprächen von Angesicht zu Angesicht stellte und Marx auch die Aufklärung der Missbrauchsfälle antrieb. Anderseits wird ihm aber auch eine Rolle bei der Vertuschung vorgeworfen.

"Einfach" ist der Fall Marx aber schließlich, weil er sich bereit zeigt, offen Verantwortung dafür zu übernehmen. So hatte er im letzten Jahr ein Rücktrittsgesuch eingereicht und, nachdem Papst Franziskus dies zurückgewiesen hatte, erklärt, dass er sich vorstellen kann, erneut einen Amtsverzicht anzubieten.

Der Anlass für den Schritt des Erzbischofs waren Missbrauch und systematische Vertuschung, institutionelles Versagen, wie das nun vom Gutachten in großer Fülle und Präzision ans Licht gebracht wird.

Die Sprengkraft: Kein Zölibat mehr und Frauen in die Kirche

Hörte man in den letzten Tagen Vertretern der Betroffenen zu, so wurde deutlich, wie groß die politische Sprengkraft ist, die mit dem Gutachten verknüpft wird: Die Reformer der katholischen Kirche werden sehr ungeduldig, sie wollen wesentliche Änderungen: kein Zölibat mehr, Frauen an geistlichen und letztlich auch hierarchischen Positionen, mehr Einfluss für Laien.

Wenn man sieht, mit welcher Vehemenz von konservativen Katholiken allein für die alte, lateinische Liturgie gefochten wird, kann man sich ausmalen, wie groß die Schockwellen sind, die das aktuelle Gutachten neu angestoßen hat.

Papst Franziskus ging heute anlässlich des Besuches einer Glaubenskongregation auf Missbrauch durch katholische Priester ein, aber nicht direkt auf das Münchner Gutachten. Er rief zu "Gerechtigkeit für Opfer und Härte im Umgang mit Tätern" auf - das alles sehr streng, wie Vatikan-News berichtet. Er empfahl aber auch, gut zu unterscheiden:

"Die Übung des Unterscheidens (discernimento) muss zwingend im Kampf gegen Missbrauch jeglicher Art angewendet werden."

Laut Redaktionsnetzwerk Deutschland gibt es in Argentinien auch Vorwürfe gegen den gegenwärtigen Papst. Er soll als Leiter der dortigen Bischofskonferenz in den Jahren 2005 bis 2011 zum sexuellen Missbrauch argentinischer Priester geschwiegen haben.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.