Journalismus zum Ukraine-Krieg: Von Nachrichtenerzählern und Moderationsgefreiten
Seite 2: Mediale Geschichten und Rollenverteilung
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Gut wiederum und eine Ironie dieser Geschichte, dass wir (auch den Medien) nichts mehr glauben müssen, sondern dass Glauben Privatsache sein sollte. Wenn es um Vertrauen in Medien und den Medien gegenüber geht, eröffnet sich uns beim medialen Storytelling ein weites Feld, zwischen den sich scheinbar ausschließenden Extremen von "Erzähl mir keine Geschichten!" und "Erzähl mir die ganze Geschichte!".
Wenn nun Ereignisse wie der Angriffskrieg der russischen Führung gegen die Ukraine per bestimmtem Storytelling mit deutlich positiv besetzen Hauptfiguren und sehr negativ besetztem Gegenspieler ("der Russe" als "Iwan, der Schreckliche") massenhaft von vielen Medien vermittelt werden, zeigt sich: Es geht beim Storytelling – und bei seinen Bezügen zu etwaigen "Fake News" – weniger darum, was intersubjektiv und im umfassenden, nachhaltigen Sinne als wahr oder richtig gelten kann.
Die Debatten um "Fake News", die Dämonisierung eines Kriegsgegners und tendenziell auch vieler Kritik an der Regierungspolitik des "eigenen Lagers" helfen demzufolge vor allem denen auch im eigenen Land, die mächtig sind – wirtschaftlich, politisch, medial, militärisch. Über strukturelle gesellschaftliche Probleme hingegen wie soziale Spaltungen oder auch Militarisierung nach innen und außen wird kaum oder eben kaum kontrovers geredet.
Allerdings scheint "nachhaltige Narrativität" offenbar nicht "billig" zu haben. Um zumindest intersubjektiv Nachvollziehbares anbieten zu können, sollten Journalist:innen sich im Bereich des Storytellings in Richtung professioneller Objektivierung dreier "Fallen" bewusst sein und damit reflektiert umgehen: Karl Nikolaus Renner nennt sie
- Spannungsfalle
- Ideologiefalle
- Personalisierungsfalle
1. Mit Blick auf die Spannungsfalle ergibt sich bei dialektischer Betrachtung, dass einerseits die Gefahr besteht, dramaturgische Mittel könnten sich verselbständigen und um ihrer selbst willen verwendet werden, also zu Lasten der Informationen im Beitrag bzw. erst recht zu Lasten von Themen, die dann – weil nicht storygerecht (umsetzbar erscheinend) – unterbelichtet oder gar nicht erst aufgegriffen werden. Allerdings weisen zugleich verschiedene Rezeptionsstudien darauf hin, dass bei bestimmten Publika durch Narrativität Informationen deutlich besser ankommen als auf andere Weise.
2. Die Ideologiefalle – der zufolge Journalist:innen tendenziell Weltbilder als "Narrative" übersehen mögen, die mit dem Erzählen von Geschichten entwickelt und verbreitet werden (wozu die gegenwärtige Kriegsberichterstattung viele Beispiele liefert) – stellt sich beim Storytelling insbesondere. Zugleich scheint sie sich generell im Journalismus zu stellen. Mit Objektivierungen gerade angesichts der unvermeidbaren Subjektivität von Erzählungen könnte sich zu diesem Problem theoretisch und praktisch reflexiv verhalten werden.
3. Ähnliches mag auch für die Personalisierungsfalle gelten: Um nicht Strukturelles auf das individuelle Handeln Einzelner zu reduzieren (sei es Selenskij, sei es Putin), sollte versucht werden, auch strukturelle Zusammenhänge mittels des Protagonisten oder des Antagonisten darzustellen.
Wie bei anderen gesellschaftlichen Problemen auch, stellt sich die Frage nach angemessenen Ressourcen dafür. Produktionsbedingungen gerade des relativ aufwändigen audiovisuellen Journalismus sollten in technischer, organisatorischer und finanzieller Hinsicht veränderbar sein. Zugleich braucht Journalismus als Ressource der Gesellschaft auch Ressourcen von der Gesellschaft.
So könnten intern oder auch extern Mittel gewonnen werden, damit journalistisch Tätige möglichst nachhaltig narrativ ihre aufwändige, ja "komplexe" Geschichte mit Hintergrund und Tiefgang planen, produzieren und präsentieren könnten. So dass – bei einem nächsten Mal und damit tendenziell "multiperspektivisch"– wiederum eine andere thematische und darstellerische Auswahl, eine andere Perspektive und Position zum Tragen kommen könnte.
Dasselbe storyträchtige Geschehen könnte damit nicht nur, sondern es sollte in verschiedene Erzählungen gefasst werden. Konzeptionen nachhaltig-narrativer Beiträge könnten so auch zu einer Renaissance der Recherche im Journalismus führen. Nachhaltige Narrativität bedarf und bildet Journalist:innen sowie Strukturen, die sich ihrer durch Ökonomisierung, Technisierung und Individualisierung wachsenden Verantwortung hinsichtlich der Freiheitsgrade des Storytellings bewusst sein sollten.
Indem, normativ und idealtypisch betrachtet, nachhaltig-narrative Beiträge aus explizit verschiedenen, einander ergänzenden und auch widerstreitenden Perspektiven und Positionen angeboten würden, könnten sich für Publika auf ganz neue und wirksame Weise Lernprozesse ergeben.
Zugleich dürfte, sofern Perspektivierung und Mittelbarkeit der narrativen Beiträge durch Transparenz nachvollziehbarer werden, die Medienkompetenz der Nutzenden steigen: Erzählungen zu begreifen, das macht ihre Struktur durchschaubarer, erlaubt auch Zweifel daran, was erzählt und als unumstößlich "wahr" ausgegeben wird.
Damit könnten Nutzerinnen und Nutzer (zumindest besser als bisher) solche narrativen Beiträge einordnen, relativieren, kritisieren und mit Alternativen konfrontieren – kurz: produktiv im eigenen Handeln aufgreifen. Journalistische Vielfalt als wichtiges Qualitätskriterium bedeutet vor dem Hintergrund der Wirksamkeit von Narrativität und Narrativen zumindest zweierlei:
Erstens als "externe Vielfalt", angesichts von Ereignissen mit Storypotential auch anderes, relevantes Geschehen als weitere Themen angemessen zu vermitteln – die Welt bleibt ja nicht einfach stehen, als Wladimir Putin am 24.2.2022 den Befehl zum Kriegsbeginn gibt. Etliche bereits andauernde Kriege anderenorts auf der Erde zum Beispiel werden weiter geführt.
Und dies bedeutet zweitens als "interne Vielfalt", das geschichtsträchtige Geschehen – sofern gesellschaftlich relevant – selbst vielseitig und hintergründig zu vermitteln. Also – was die "interne Vielfalt" auf der Ebene der Sendung und Sendungen angeht – nicht nur in einer Darstellungsart und Darstellungsform, nicht nur in einer Perspektive und Position, nicht nur mit einer Hauptperson (sei es die Ukraine, sei des deren Präsident oder aber die westliche Welt) sowie der auf sie bezogenen Herausforderung samt deren Auflösung und daher verbunden nicht nur mit tendenziell oft deutlich einseitigen Gefühlen und Informationen.
Und was die "interne Vielfalt" bezogen auf den einzelnen narrativen Beitrag angeht, durch objektivierende journalistische Ansätze wie Ausbalancierung (zu) einseitig-suggestiver Bilder durch die Textperson/den Sprechertext, durch parallele Handlungsstränge (nicht nur im Gesamtangebot, sondern, wo möglich, auch im einzelnen Beitrag) oder durch den Einbezug von pluralisierenden, einordnenden Nebenfiguren bzw. anderen alternativen Quellen in Bild und Originalton. Was sicherlich eine gewisse Mindestlänge und Mindestkomplexität und damit Aufwand für Produktion und Rezeption bedeutete.
Wenn sich also "Nachrichtenerzähler" weniger als "Moderationsgefreite", sondern viel mehr als Beitragende zu möglichst gelingender, selbstkritischer gesellschaftlicher Kommunikation auf Augenhöhe mit ihren Publika begriffen, die ihre Geschichten als erkennbare und kritisierbare Versionen in vielfältige, wettbewerbliche Diskurse mit anderen gesellschaftlichen Erzählungen brächten, dann ließe sich Narrativität auch nachhaltig gestalten. Oder doch zumindest nachhaltiger als bisher.
Um den Bogen zum gegenwärtigen Krieg zu schließen: "Die Zeit der Helden" heißt der Aufmacher-Essay der Wochenendbeilage (19./20.März) der regionalen Tageszeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND), geschrieben von Imre Grimm, online zu finden bereits seit 10. März hier. Diese Regionalzeitungen decken weite Teile Deutschlands ab, man erreicht nach eigenen Angaben mit mehr als 60 Tageszeitungen täglich knapp sieben Millionen Lesende.
Unter anderem zählen dazu Kieler Nachrichten, Ostseezeitung, Hannoversche Allgemeine oder Leipziger Volkszeitung. Das Dach RND ist verantwortlich für die überregionalen Inhalte all dieser Zeitungen der Verlagsgesellschaft Madsack mit ihrer Zentrale in Hannover. Ein großer Teilhaber dort ist übrigens die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft, das Medienbeteiligungsunternehmen der Kanzlerpartei SPD. Aber das nur am Rande.
Dieser Essay mag hier, da weder Boulevard-Artikel noch hochintellektuell, als "normal" für den jetzigen Journalismus in Deutschland gelten, zumal es in vielen ähnlichen Medien derzeit Beiträge ganz ähnlichen Tenors gibt; hier im Focus, dem Handelsblatt und in der Süddeutschen Zeitung.
Grimm steigt doppelt szenisch ein und bestimmt damit Ton und Tenor für den gesamten Essay: "Der Eine sitzt einsam in Goldpomp und Gloria an absurd großen Tischen; es sind Möbel wie horizontale Phallussymbole. Der Andere sitzt im olivgrünen T-Shirt vor einer wackeligen Handykamera. Der eine wirkt unnahbar, kalt und einsam in seinem perfekten Zwirn. Der andere wirkt übermüdet, mitfühlend und zerzaust wie ein tapferer Familienvater, der nach zehn Stunden im Büro noch schnell beim Schulelternabend auftaucht."
Putin gilt ihm als "dämonisch-neozaristischer Goliath hinter den Mauern des Kreml", Selenskyj hingegen als "tapfer ausharrender David auf den Straßen seiner im Feuer stehenden Hauptstadt Kiew". "Diktator" versus "moderner Mann". Und so weiter und so fort über eine ganze Zeitungsseite.
Bemerkenswert, dass der Autor praktisch gar nicht die Rolle von Medienschaffenden (wie ihm) in diesen Prozessen narrativistischer Heroisierung thematisiert oder gar selbstkritisch reflektiert. Nein, es sind laut Grimm nicht die Medien, sondern "die Menschen, die Menschen zu Helden erklären", oder eben gleich die ganze "Welt": Die habe angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart "noch immer Hunger auf Helden".
Bertolt Brecht hat (auch) dazu in seinem „Leben des Galilei“ Treffendes gesagt, hier im Dialog zwischen Schüler Andrea und dem alten Galilei, nachdem Galilei offiziell "abgeschworen" hatte und sein Schüler sich enttäuscht darüber sowie enttäuscht über seinen Lehrer zeigt:
Andrea: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat!“
Galilei: „Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“