Judge KI

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"Möchten Sie Einspruch einlegen?", fragte Appvokat. Kurzgeschichte

Der Feierabend eilte heran. Shenmi warf einen Blick auf die Uhr. Fünf Minuten verblieben ihr noch, um die letzten Kleinigkeiten und Aufräumarbeiten zu erledigen. Erst dann konnte sie entspannt ins Wochenende starten.

Vom Zeitdruck und der gebotenen Pünktlichkeit angetrieben, liefen ihre Bewegungen fast automatisch ab. Sie rückte die Holobrille zurecht und navigierte rasend schnell durch die Menüs. Die fälligen Code-Änderungen aufgrund der Gesetzesänderungen hatte sie rechtzeitig fertigstellen können. Die Tests liefen sauber durch und auch die Qualitäts- sowie Sicherheitsprüfungen meldeten keinerlei Probleme oder Auffälligkeiten.

"Verdammt", entfuhr es Shenmi. Beim Schließen der einzelnen Tabs im Webbrowser hatte sie aufgrund der Eile den Fingerzeig nicht sauber gesetzt und versehentlich eine Werbeanzeige erwischt. Sofort öffnete sich eines der Tausenden generischen Shopping-Portale, das ihr eines der vielen fragwürdigen und beliebigen Produkte feilbot.

Ausgerechnet jetzt, dachte Shenmi und versuchte, die Portalseite schnellstmöglich zu schließen. Die weigerte sich allerdings beständig, forderte stattdessen Zugriff auf ihren Standort und ihre Augmented-Reality-Brille. "Blockieren", "Ablehnen" und "Schließen". Geschafft.

Shenmis Smartphone plingte. Das musste das Shuttle sein, das sie zum Bahnhof bringen sollte. Sie setzte ihre Brille ab, warf alles in die Tasche, griff ihr restliches Gepäck und hastete aus dem Office. Sie war zwar nicht die Letzte vor Ort, aber die meisten anderen Mitarbeitenden des Unternehmens waren bereits aufgebrochen. Entsprechend hatte sie Glück. Der Aufzug wartete gerade auf Ihrer Etage und die Tür stand offen. Sie schlüpfte hinein und fuhr nach unten. Im Vorbeirennen wünschte sie dem Sicherheitspersonal noch ein schönes Wochenende. Dann trat sie auf den Vorplatz und sah sich um. Vom erwarteten Shuttle fehlte jede Spur.

Wartete das Shuttle an einem anderen Ort? Wurde dem Shuttle vielleicht die Befahrung des Firmengeländes aus Sicherheitsgründen verweigert? Shenmi kramte das Smartphone aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Ein gutes Dutzend Benachrichtigungen verlangten nach ihrer Aufmerksamkeit, alle eingetroffen, seit sie aufgebrochen war. Und die Tasche musste die Töne gedämpft haben.

Die neueste Benachrichtigung informierte sie, dass ihr Shuttle storniert und ihr Konto gesperrt worden war. Was soll die Scheiße, fragte sich Shenmi. Sie öffnete die Benachrichtigung, die nur allerdings nur eine lapidare Standardaussage enthielt:

"Aufgrund eines Verstoßes gegen die Geschäftsbedingungen, haben wir ihr Benutzerkonto dauerhaft sperren müssen. Bitte entschuldigen Sie eventuell entstandene Unannehmlichkeiten. Wir hoffen, sie bald wieder im Kreis unserer Kundschaft willkommen heißen zu dürfen."

Welcher beschissene Verstoß soll das gewesen sein? Shenmi wischte nach unten, auf der Suche nach einem Hinweis für die Stornierung und den angeblichen Verstoß. Sie versuchte, die Benachrichtigungen chronologisch durchzugehen.

Den Anfang machte eine Nachricht aus der Personalabteilung. "Sie haben während der Arbeitszeit private Erledigungen getätigt. Der festgestellte Verstoß: Missbrauch von Firmeneigentum zum persönlichen Vorteil. Damit haben sie gegen die Betriebsvereinbarung verstoßen." Shenmi stutzte. Bitte was? Shenmi hatte noch nie gegen Bedingungen oder Auflagen verstoßen. Das war der Grund, warum sie die Anstellung bei ihrem Arbeitgeber überhaupt bekommen hatte. Sie hatte eine absolut weiße Weste. Und nun wurden ihr gleich zwei Verstöße – quasi im selben Atemzug – vorgeworfen.

Sie öffnete die nächste Benachrichtigung, die ebenfalls aus der Personalabteilung stammte. "Sie haben in diesem Quartal dreimal gegen die Betriebsvereinbarung verstoßen. Die Daten und die Beweise zu ihren Verstößen haben wir automatisiert der Jurisdikation zur Verfolgung übergeben." Davon las respektive hörte sie gerade zum ersten Mal.

Panik

Panik machte sich in Shenmi breit. Sie konnte sich nicht erinnern … Verdammte-scheiß-drecks-Werbeanzeige, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Etwas anderes konnte es nicht sein. Und es war ihr in diesem Quartal wirklich schon ein, zweimal passiert, dass sie in der Hektik mit einer Werbeanzeige interagiert hatte. Anbieter fanden immer wieder einen Weg, die Werbeblocker und Filterregeln der Firewall zu umgehen. Und ohne Dokumentationsrecherche im Internet waren die meisten Entwickler aufgeschmissen.

Die nächste Benachrichtigung schaffte dann tatsächlich Klarheit. Sie stammte vom Gericht. Sie überflog den Text und stieß auf die entscheidende Stelle. "Aufgrund der bei uns eingereichten Daten und Beweise hat das Objective Automated Jurisdictional System 2.08, betrieben und verifiziert von Judge Systems, einen Straftatbestand festgestellt. Das Strafmaß wird ihnen gesondert zugestellt."

Shenmi sackte zusammen und setzte sich auf ihre Reisetasche. Sie musste Einspruch einlegen und dieses Problem aus der Welt schaffen. Sonst war es das mit ihrem Wochenende. Schnell startete sie Appvokat auf ihrem Smartphone. Dort lagen bereits einige Benachrichtigungen für sie vor. Sie alle bezogen sich auf das automatisiert ausgesprochene und rechtskräftige Urteil des OAJS.

Das OAJS war seit gut einem Jahr im Einsatz. Grundlage dafür war die Gesetzesänderung "Jurisdiction as Code". Bestimmte Sachverhalte durften dieser Gesetzesänderung nach automatisiert in Form von Code beurteilt werden. Auf deren Grundlage erfolgten dann KI-basierte, ebenfalls automatisierte Urteile.

Die zentrale, legislative Instanz stellte die entsprechenden Testdaten bereit und legte die erwartete sowie nicht erwarteten Testergebnisse fest. Jedes Unternehmen durfte dann entsprechende JaC-Algorithmen implementieren und Judgement-as-a-Service anbieten. Das sollte den Gerichten Entlastung bei den stetig wachsenden Fallzahlen verschaffen.

Verschiedene Unternehmen buhlten dabei um den Markt des Judgement-as-a-Service. Auf einer Art Gebotsplattform stellten die Gerichte die Fälle ein und die Wettbewerber ließen ihre JaC-Algorithmen drüberlaufen. Schnelligkeit und Aktualität der JaC-Algorithmen waren entscheidend. Denn wer als erstes das Ergebnis lieferte, erhielt im Nachgang die für jedes gesprochene Urteil ausgewiesene Provision. Und Judge Systems hatte mit danke OAJS das mit Abstand schnellste System am Markt.

"Möchten Sie Einspruch einlegen?", fragte Appvokat. Natürlich wollte sie das. Dazu sprach Shenmi ein klares und präzises "Ja" ins Smartphone. Dann bestätigte Sie den Einspruch noch mit ihrem Fingerabdruck. Schon zwei Sekunden später erhielt sie die Rückmeldung. Schnelligkeit war in solchen Fällen eben Trumpf.

"Einspruch abgewiesen." Shenmi konnte es nicht fassen. Klar, sie hatte die Shoppingseite geöffnet, aber das war nur ein Versehen. Sie hatte nicht im Katalog gestöbert, nichts bestellt, alles abgelehnt, so schnell wie möglich alles geschlossen. Nur aufgrund der Hektik war es zu dieser versehentlichen Interaktion gekommen. Absicht steckte keine dahinter. Klar, es war nicht das erste Mal in diesem Quartal, aber diese Decks-Werbebanner waren auch einfach hinterhältig, clever programmiert und gut platziert.

Appvokat

Sie suchte in Appvokat. Irgendwo musste es die Möglichkeit geben, den Einspruch zu wiederholen und zu begründen. Da war sie sich absolut sicher. Aber sie konnte sie nicht entdecken.

Also musste sie sich manuell behelfen. Shenmi öffnete den in Appvokat integrierten Support-Chat. Ihr war klar, dass auch dieser von einer KI und Algorithmen getragen wurde. Aber eine andere Wahl blieb ihr gerade nicht. Sofort meldete sich bereits der Operator.

"Wie kann ich Ihnen helfen?" Der Operator kam direkt zum Punkt. Ein Vorteil der automatisierten Systeme.

"Ich muss gegen ein vollkommen unfaires Urteil Einspruch einlegen und eine wichtige Begründung mit angeben. Aber ich finde in meiner Anwaltsapp keine passende Option dafür." Shenmi hatte sich daran gewöhnt, selbst mit Computersystemen wie mit anderen Menschen zu sprechen. Eine kurze Pause. "Das liegt daran, dass Sie lediglich die Basismitgliedschaft abgeschlossen haben", erklärte Ihr der Operator. "Mit dieser Freemium-Mitgliedschaft sind nur Standard-Einsprüche möglich."

Sie erinnerte sich. Sie hatte damals, nachdem sie die Schule verlassen hatte und auf die Universität wechselte, schnell die kostenlose Basismitgliedschaft aktiviert und sich danach nie wieder Gedanken darüber gemacht. Sie war als Kind und Jugendliche immer aufrecht und ehrlich gewesen, durch und durch. Sie hatte schlichtweg nicht damit gerechnet, jemals in rechtliche Komplikationen zu geraten.

Selbst während der Schul- und Studienzeit hatte sie nicht eine Strafe oder gar Ermahnung erhalten. Die in den Lehreinrichtungen einsehbaren Statistiken bewiesen dies. Auf eine solche absolute Integrität legte ihr aktueller Arbeitgeber wert. Und dass sie dort arbeiten wollen würde, stand schon lange fest. "Dann stufen sie mich bitte hoch", forderte sie den Operator auf.

Premium-Club

"Natürlich begrüßen wir Sie sehr gerne im Premium-Club. Damit stehen ihnen alle Optionen unseres Leistungsportfolios samt individueller Einsprüche zur Verfügung", erklärte der Operator. "Ihre Mitgliedschaft beginnt unseren Vertragsbedingungen entsprechend in zwölf Monaten."

"Nein, das ist zu spät. Ich benötige die Mitgliedschaft jetzt!" Das jetzt spie Shenmi fast aus. Sie war genervt. Ja, KI konnte hilfreich sein, aber manchmal auch schlichtweg begriffsstutzig.

"Solange sie rechtskräftig verurteilt sind und ihre Strafe nicht abgegolten ist, ist das nicht möglich. Vielen Dank, dass Sie Appvokat von Judge Systems verwendet haben." Das Chatfenster schloss sich.

Wutentbrannt sprang Shenmi auf. Hier draußen konnte sie nichts machen. Sie wirbelte herum, um wieder ins Gebäude einzutreten. Sie hielt ihr Smartphone an das Lesegerät. Aber es ertönte lediglich ein negierendes Brummen. Das System gab die Tür nicht frei. Stattdessen sprach eine künstliche Stimme: "Ihr Anstellungsverhältnis wurde aufgrund eines rechtskräftigen Urteils außerordentlich beendet. Ihre Zugangsberechtigung sowie alle mit der Anstellung verbundenen Privilegien wurden Ihnen entzogen."

Das Sicherheitspersonal – von dem sich Shenmi vorhin noch im Vorbeirennen verabschiedete hatte – kam zu ihr nach draußen. Das System hatte ihren Versuch des Zutritts wohl bereits ans Personal vermeldet. Der größere der beiden Mitarbeiter beugte sich leicht zu ihr nach vorne. Zaghaft sprach er: "Es tut mir leid, Shenmi." Dann streckte er sich und sprach mit fester Stimme: "Sie halten sich ohne Erlaubnis auf dem Gelände von Judge Systems auf. Wir werden sie nun zum Ausgang begleiten und bitten Sie, jegliche Versuche des Widerstands zu unterlassen."