Jung, ledig, revolutionär
Auch vor 1968 hat die Jugend schon Geschichte gemacht
„Ihr seid alt, wir sind jung - Mao Tse-tung!“, deklamierten die Studenten vor 41 Jahren unversöhnlich. Und jung sind auch ihre Nachfolger geblieben, von den Atomkraft-Gegnern über die Friedensaktivisten bis hin zu den Globalisierungsgegnern unserer Tage. Wer einmal zu einer dieser Gruppen gehörte, der kann sich eine weniger jugendbewegte Protestkultur gar nicht mehr vorstellen. Nur irgendwo hinter den sieben Bergen, vor 1968, da muss alles ganz anders gewesen sein.
War es aber eigentlich auch nicht groß. „Paris ist voll von jungen Männern, die jede Gelegenheit ergreifen, um als Talent aufzutreten, Schreiber, Buchhalter, Rechtsanwälte und Soldaten, die sich selbst zu Autoren machen, Hungers sterben, sogar betteln und Flugschriften herausgeben“, so beschreibt der Zeitgenosse Mallet du Pan die 1789er.
Beim Ausbruch der Französischen Revolution war kaum einer der Hauptakteure älter als 30. Danton war genau 30, Desmoulins 29, Saint-Just 22 und Napoleon 20; nur Robespierre und Marat hatten mehr Jahre auf dem Buckel. Der Altersdurchschnitt der Nationalversammlungsabgeordneten betrug 26 Jahre, was auch damals noch kein Alter war. Die Lebenserwartung lag zwar beträchtlich unter der heutigen, aber wer erst einmal die ersten Jahre überstanden hatte - ein Drittel aller Babys starb in den ersten 12 Monaten - , der hatte mit Glück noch ein langes Leben vor sich. Und revolutionieren sollte sich dieses Leben nach dem Willen von Danton & Co. nicht zuletzt für ihre Altersgenossen. Die Umstürzler schafften sofort die Privilegien des Alters, wie sie im Erstgeburtsrecht, im Erbrecht und in den Korporationsgesetzen ihren Ausdruck fanden, ab und senkten die Volljährigkeitsgrenze auf 21 Jahre. Sogar in die Erklärung der Menschenrechte fand diese Politik Eingang. „Keine Generation hat das Recht, die nachfolgenden Generationen ihren Gesetzen zu unterwerfen“, heißt es im Artikel 28 der Deklaration.
Und das ließen sich die nachfolgenden Generationen nicht zweimal sagen. Sie pochten alle auf das Vorrecht der Jugend. James Fazy veröffentlichte 1828 mit „Über die Gerontokratie“ das juvenile Manifest, das auch mit der inzwischen in die Jahre gekommenen Revolution haderte. Zeitgleich probierten die zahlreichen Anhänger des 1825 verstorbenen Sozialphilosophen Saint-Simon in ihrer sektenähnlichen Gemeinschaft schon einmal das Gegenmodell aus: Ihr harter Kern kam auf einen Altersdurchschnitt von 25 Jahren.
So richtig ernst mit der Jugendpolitik machte in den 1830er Jahren allerdings erst der Italiener Giuseppe Mazzini. 1831 gründete er den republikanischen Geheimbund „Junges Italien“. Anschließend half er tatkräftig mit, ähnliche Gruppen in anderen Ländern aufzubauen. 1834 erfolgte dann die europäische Vereinigung von „Junges Deutschland“, „Junges Italien“ und „Junges Polen“. Und damit das nunmehrige „Junge Europa“ auch jung blieb, setzte Mazzini das Höchstalter auf 40 fest. Als „kindische Greise aus der Zeit der Argonauten“ sahen sich deshalb frühere politische Weggefährten mit den unpassenden Geburtsurkunden verschmäht. Aber nicht an der Altersfrage zerbrach das „Junge Europa“ schließlich. Die Partikularinteressen der nationalen Verbände erwiesen sich als ein weit wirkmächtigerer Spaltpilz - und haben die Zeit offenbar gut überdauert.
1848 fand so ohne die länderübergreifend organisierten Jungspunde statt. Die Sache der Jugend blieb trotzdem prominent vertreten. „Zwei Altersgruppen, nicht zwei Klassen“ waren es nach Meinung des Druckergesellen Stephan Born, die sich in Deutschland gegenüberstanden. Nach dem Scheitern der Revolutionen tat sich dann erst einmal nichts mehr, und prompt setzte in den Augen von Alexander Herzen eine Vergreisung ein. „Europa ist sehr alt“, konstatierte der russische Emigrant in seinen „Briefen aus Italien und Frankreich“ mehr als 150 Jahre vor Donald Rumsfeld, „es hat nicht Kraft genug, um sich zur Höhe seines eigenen Gedankens aufschwingen zu können“. Aber in seiner Heimat tat sich ein neuer Jungbrunnen auf. „Wir sind glückstrunken, außer Rand und Band, wir sind jung“, jubilierte Herzen 1855 nach Erhalt der Nachricht vom Tod Nikolaus des Ersten, wie Sergio Luzzatto in dem von Giovanni Levi herausgegebenen Sammelband „Die Geschichte der Jugend“ überliefert.
Derweil berappelte sich auch das „alte Europa“ wieder. Das Mutterland der Revolution raffte sich noch einmal zur „Pariser Kommune“ auf, bei der vor allem die Blanquisten Émile Eudes, Théophile Ferré, Raoul Rigault und Proudhon-Anhänger wie Léo Fränkel und Benoît Malon den Altersdurchschnitt senkten. Das neue Jahrhundert brachte dann mit den Wandervögeln die erste veritable Jugendbewegung, neue Revolutionen und Erhebungen mit starker Beteiligung junger Menschen wie den Spanischen Bürgerkrieg. „Es war de facto die jüngste Revolution der Weltgeschichte. Der Altersdurchschnitt lag zwischen 17 und 22 Jahren“, hielt Abel Paz fest, der sich selbst mit 15 anarchistischen Kämpfern angeschlossen hatte.
Jugendkulturen mit Kleiderordnung und Initiationsriten
Auch der Habitus, den die verschiedenen Sammelbecken für die Unzufriedenen jeweils ausprägten, lassen die Gruppen als frühe Jugendkulturen erscheinen. Ob Freimaurer, Geheimbünde, Bruderschaften, Saint-Simonisten oder russische Nihilisten - alle legten sie viel Wert auf Exklusivität. Sie erfanden Initiationsriten, gaben sich eine einigermaßen komplizierte innere Struktur und schufen eine verbindliche Kleiderordnung. An der Spitze der Saint-Simonisten etwa standen zwei „pères“ als Hohepriester; ihnen folgten Mitglieder ersten, zweiten und dritten Grades nach. Als Einheitskluft diente ein Rock mit breitem Ledergürtel, Schal und rotes Barett sowie eine Weste, die nur von hinten zuknöpfbar war, damit man gemäß der altruistischen Lehre immer der Hilfe anderer bedurfte. Die russischen Nihilisten hingegen trugen natürlich schwarz, hatten einen Jakobinerhut auf dem Kopf, lange Haare und einen Bart, um ihre Verbundenheit mit den Bauern zu demonstrieren.
In den gewählten Wiederstandsformen artikulierte sich ebenfalls „Altersbewusstsein“. Vielfach knüpften diese an die Charivaris an, deren Tradition bis ins 16. Jahrhundert reicht. Zu Beginn der Neuzeit hatten die Jugendlichen zu festlichen Anlässen „verkehrte Welt“ spielen dürfen. Sie erwählten aus ihren Reihen einen „Lord of Misrule“ und folgten dem „Herren des schlechten Regierens“ unter Heidenlärm in einem Umzug, auf dem sie von den Erwachsenen Tributzahlungen eintrieben. Die Katzenmusik, von der sich das Wort „Charivari“ ableitet, diente der Dorfjugend zudem dazu, älteren Männern auf die Pelle zu rücken, die ihnen die Mädchen streitig machen wollten. Später gab dann der oberste Maschinenstürmer den „Lord of Misrule“; seine Gefolgschaft trug wie einst Masken und kam im Sonntagsstaat. Wie John R. Gilles in seiner „Geschichte der Jugend“ schreibt, waren die Riten des Misrule in Frankreich noch das ganze frühe 19. Jahrhundert lang ein integraler Bestandteil der Protestkultur, weshalb der damals 24-jährige Honoré Daumier ihnen 1832 auch eine Hommage erwies und seine neue satirische Zeitung „Charivari“ nannte.
Eschatologie des Bruchs
Auch die Unbedingtheit der Rebellen trug Altersspuren. Als veritable Invasion einer Generation („irruption generationelle“) beschreibt der 1795 geborene Historiker Augustin Thierry die Französische Revolution. Und wenn erst einmal alles auf eine Generationenfrage zuläuft, dann muss es zwangläufig irruptiv zugehen, weil diese Konstellation die Traditionslinien reißen lässt: Erlebnisgemeinschaften teilen nichts mit anderen. Folglich haben die Revolutionäre in den Augen des Geschichtswissenschaftlers Pierre Nora, der die Generation zu einem seiner „Erinnerungsorte“ gemacht hat, geradezu eine „Eschatologie des Bruches“ betrieben.
Tatsächlich zeichnet der Hang zum Dezisionismus auch noch viele ihrer Nachfolger aus. „Das Geheimnis des Könnens liegt im Wollen“, befand Giuseppe Mazzini, und vor allem die russischen Anarchisten haben es genau dort gesucht. Sie haben sich in Turgenjews „Väter und Söhne“ wiedererkannt und den Basarow, der die Konfrontation mit der Familie sucht, alles Überlieferte ablehnt und sich als „selbst erzogen“ bezeichnet, zu einem der Ihren erkoren. Dabei gingen sie sogar so weit, den von Turgenjew abwertend gebrauchten Begriff des Nihilismus ins Positive zu wenden und sich mit diesem Prädikat beim Tabula-Rasa-Machen zu schmücken.
Ihrem Ziehvater Alexander Herzen ging das zu weit. Als das „Junge Russland“ von den „großen Terroristen von 92“ schwärmte und statt der Guillotine die „Äxte der Jugend“ gebrauchen wollte, klagte er über seine verlorenen Söhne: „Turgenjews Basarow ist im Vergleich mit diesen Schweinen ein Gott“. Bakunin, der trotz alledem nichts auf „diese schmutzigen, plumpen und oft sehr unbequemen Pioniere einer neuen Wahrheit und eines neuen Lebens“ kommen ließ, sah deshalb auch bei seinem Revolutionskollegen schon die biologische Uhr ticken und redete ihm gut zu: „Nicht altern, Herzen, im Alter liegt nichts Gutes!“
Lenin hingegen hat der Voluntarismus der Nihilisten und ihrer gemäßigteren Vorläufer nicht unbeeindruckt gelassen. So verdankt „Was tun“ seinen Titel dem 1863 erschienenen Erfolgsroman Nikolai Tschernyschewskis, der wie Herzen den sozialrevolutionären Narodniki, den „Volksfreunden“, angehörte. Nachdem diese Bewegung mit dem fehlgeschlagen Aufstand von 1874 in eine politische Sackgasse geraten war, liefen viele ihrer Anhänger zu den Marxisten über. David Ryazanov, der sich schon mit 15 den Narodniki angeschlossen hatte, brachte es später sogar bis zum Gründungsdirektor des Marx-Lenin-Instituts, ehe er dann Stalin zum Opfer fiel. Georgi Plechanow und - zumindest zeitweilig - Pawel Akselrod stießen ebenfalls zu den russischen Kommunisten und brachten auch ihr ideologisches Erbe ein. Der Leninismus hatte eben auch eine russische Seele, wie besonders C. S. Ingerflom herausgestellt hat - und ohne ihren Tatendrang hätte er in dem nach der reinen Lehre noch gar nicht revolutionstauglichen Land auch kaum Geschichte machen können.
Die intellektuellen Überflüssigen haben wenig zu verlieren und viel von der Zukunft zu gewinnen
Zur Erklärung dieses adoleszenten Tatendranges hat wiederum Turgenjew mit seinem „Tagebuch eines überflüssigen Menschen“ ein entscheidendes Stichwort geliefert. Überflüssig fühlten sich junge Erwachsene in der Geschichte nämlich so manches Mal. Mit zahlreichen Talenten und Fähigkeiten ausgestattet, hatten sie häufig Schwierigkeiten, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und entschieden deshalb oft kurzerhand, sich einfach einen zu erobern.
„Aufgewachsen bin ich unter großen Herren. Nach Abschluss meiner Studien hatte ich nichts (...) Die Revolution tritt ein; ich und alle meinesgleichen, wir haben uns in sie hineingestürzt. Das Ancien Régime hat uns hineingezwungen, indem es uns gut aufwachsen ließ, ohne unseren Begabungen ein Betätigungsfeld zu öffnen“, gab etwa Danton zu Protokoll. Der ehemalige Amtsschreiber gehörte mit Desmoulins, Marat, Mercier, Hébert und zahlreichen anderen zum von Mallet du Pan so despektierlich dargestellten intellektuellen Proletariat von Paris, das 1789 seine Chance ergriff.
Die ungeregelte Mobilität, die auch nach Meinung von Alexis de Tocqueville mit zu den sozialen Ursachen der Französische Revolution gehörte, sollte in der Folge noch für weitere Erschütterungen sorgen, weil sich die Gesellschaft nach der Zeitenwende kaum verjüngte. „Welch außerordentlicher Herrschaftsinstinkt trieb die turbulente Neunundachtziger-Generation! Erst hat sie die eigenen Väter entmündigt und schließlich die eigenen Söhne enterbt“, echauffierte sich etwa der Gerontokratie-Kritiker Fazy. Die 1830er-Revolution hat die Alt-89er dann allerdings nicht absetzen können, wie Balzacs Z. Marcas wehmütig beklagt, ohne jedoch seinen Glauben an die Heranwachsenden zu verlieren. „Die Jugend wird explodieren wie der Kessel einer Dampfmaschine. Die Jugend hat keinen Ausweg in Frankreich. Sie wälzt hier eine Lawine aus verkannten Fähigkeiten, aus legitimen und rastlosen Ambitionen zusammen“, wetterte er. Und der spätere Pariser Kommunarde Jules Vallès widmete sein Buch „Le Bachelier“ (Der Abiturient) all denjenigen, „die mit Griechisch und Latein gefüttert wurden und verhungert sind“.
Der Nationalsozialismus profitierte nach Meinung Ernst Günter Gründels und anderer NS-Adepten ebenfalls vom „Radikalismus der Enterbten“, wie Stefan Willer in einem Kapitel des Buches „Das Konzept der Generationen“ darlegt. Was die jungen Revolutionäre befeuerte, trieb bisweilen auch die jungen Konterrevolutionäre an. Und ihre Geschichte ist fast so alt wie die ihrer Kontrahenten. Sie beginnt 1794 mit der Jeunesse dorée, setzt sich mit den 1848 auf Arbeiter einprügelnden Studenten und Benjamin Disraelis „Young England“-Bewegung fort und findet mit dem Dritten Reich noch lange nicht ihren Abschluss.
Mit dem „Youth-Bulge“ - so die zeitgemäße Fassung des Überflüssigen-Theorems - ist der Faschismus natürlich ebenso wenig hinreichend erklärt wie die Revolutionshistorie seit dem Sturm auf die Bastille. Häufig genug hatte es ausreichend Überflüssige, doch es kam trotzdem nichts in Fluss, oder aber es waren der sozialen Mobilität keine Grenzen gesetzt, und die Jungen rebellierten trotzdem wie 1968. Aber auch in normaler Stückzahl bleiben einige Zweifel an ihrer Tauglichkeit zum politischen Subjekt. Zu unterschiedlich waren die Wege, die sie ab 1789 beschritten, und zu selten vermochten sie die sozialen Gräben zu überwinden, die sich innerhalb ihrer „Klasse“ auftaten.
Aber dennoch ist da irgendwas, was gerade die Jugend dafür qualifiziert, für ein „Fortsetzung folgt“ der Geschichte zu sorgen. Ihr Blut, das sie nach Meinung der „Enzyklopädie“ besonders empfänglich für moralische Empfindungen macht, ist es wohl eher nicht. Vielleicht aber die ihr im selben Artikel zugesprochene Eigenschaft, „verliebt ins Neue“ zu sein.