KI: "In 100 Jahren könnte die Maschine so gut sein wie ein Mensch"

Ingolf Wunder kritisiert die Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz nicht, macht sich aber Sorgen um die menschliche Kreativität. Foto: Jarosław Roland Kruk / CC-BY-SA-3.0

Was bedeutet Künstliche Intelligenz für die Kunst? Ersetzt Computermusik irgendwann menschliche Kompositionen? Ein Gespräch mit dem Pianisten Ingolf Wunder

Beim Internet Governance Forum der Vereinten Nationen, das vom 7. bis zum 10. Dezember im polnischen Katowice stattfindet, referiert der österreichische Konzertpianist Ingolf Wunder über die Bedeutung musikalischer Bildung und die Chancen menschlicher Kreativität im Zeitalter der Computerisierung. Mit Telepolis sprach der Mitgründer der Distanzunterrichts-Plattform appassimo.com über diese Entwicklung – und darüber, dass sich die Menschheit in puncto Musikalität schon länger nicht weiterentwickelt habe.

Herr Wunder, Sie treten beim UN Internet Governance Forum im polnischen Katowice auf. Was spielen Sie denn?

Ingolf Wunder: Ja, ich spiele drei polnische Komponisten, die ich alle sehr schätze, Wojciech Kilar, den großen Filmkomponisten, der leider in der internationalen sowie klassischen Szene noch zu wenig Anerkennung findet, dann Chopins As-Dur Polonaise, aus meiner Sicht fast die heimliche polnische Nationalhymne, und Paderewskis Menuett in G-Dur.

Dann kommt Ihr Vortrag. Worum geht es?

Ingolf Wunder: Es geht um die Wichtigkeit von Musik, Musik-Bildung und qualitativer Musik in einer Welt, die voll von Künstlicher Intelligenz ist. Eigentlich dürfte es ja ohne Musikalität keine Musik gegeben. Aber wir haben es leider in den letzten Dekaden hinbekommen, dass es überall Musik von zu niedriger Qualität gibt und die Leute sich 24 Stunden am Tag von solcher Musik umgeben.

Und sie sind sich dessen gar nicht mehr bewusst, dass da die Musikalität fehlt. Musikalität ist aber die Essenz von Musik. Weiter ist es auch wichtig zu wissen, dass diese Qualität, die ich anspreche, auch nicht genrespezifisch ist. Es gibt qualitative Popmusik, genauso wie es nicht-qualitative Popmusik gibt, es gibt nicht-qualitative klassische Musik wie es qualitative klassische Musik gibt.

Qualitative Musik gibt einem einfach mehr Information, mehr Diversifikation, wichtige kleine Unterschiede und Muster, und all diese Dinge werden direkt von unseren Zellen aufgenommen.

"Ein großes Thema, das alle angeht"

In einem Beispiel – man nehme einen Walzer, spielt diesen aber nicht grundmusikalisch, sondern mechanisch und ohne das richtige Rubato, dann ist genau diese Musikalität nicht vorhanden und der Walzer funktioniert nicht mehr.

Wenn man die Essenz nicht hinbekommt, dann hat man zwar noch immer die bestimmten Frequenzen und die Töne haben eine bestimmte Länge, aber Du hast die Musikalität nicht mehr, die unser Nervensystem braucht um einen Walzer richtig zu fühlen.

Was meinen Sie zu Hintergrundmusik, etwa in Kaufhäusern?

Ingolf Wunder: Wir bewerten jede Information, die unser Gehirn aufnimmt immer mit unserem Bewusstsein und mit unserem Unterbewusstsein. Das Bewusstsein kann sich nur auf wenige Dinge zur gleichen Zeit konzentrieren. Während das Unterbewusstsein alles aufnehmen kann, was jemand je gehört, gesehen, gedacht oder erlebt hat. Das heißt, auch die Hintergrundmusik nimmt unser System immer wahr, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht. Deswegen ist Musik so ein großes Thema, das alle angeht, nicht nur Musiker.

Sie scheinen sich in Neurologie auszukennen.

Ingolf Wunder: Ich spreche über die Wichtigkeit von Musik und wie unsere menschlichen Organismen die Musik aufnehmen und was die Musik bewirken kann in einer Welt, wo der Mensch und die Maschinen quasi fast nicht mehr trennbar sind. Wir haben bald KI-Systeme, die für Dich Deine eigene Musik komponieren lassen, obwohl Du kein Komponist bist, oder Du hast ein KI-System, dass Deine rechtlichen Sachen erledigt, ohne dass Du Anwalt bist.

Und das Gleiche gibt es in vielen weiteren Feldern. Das können wir nicht aufhalten und ich kritisiere das auch gar nicht. Ich sage aber, dass wir darauf achten müssen, in dieser Veränderung der Welt auch die menschlichen Qualitäten zu trainieren und zu stärken und hierzu ist die Musik, vor allem die qualitative Musik, ein gutes Mittel. Und wir müssen es schaffen, die Technologie wirklich so zu nützen, dass sie uns Menschen hilft.

"Wir brauchen jetzt neue Wege"

Hatten Sie eigentlich ein einschneidendes Erlebnis, nach dem sie gesagt haben, nun muss ich mich mit diesem Thema beschäftigen?

Ingolf Wunder: Ich habe mit dem Klavier ganz spät begonnen, erst mit vierzehn Jahren, und habe sofort sechs Stunden am Tag geübt. Ich mache immer alles was ich angehe mit vollem Fokus. Ich habe es dann geschafft, internationale Karriere zu machen, ohne wirklich Teil des "normalen Bildungssystems" gewesen zu sein, indem ich mir meine eigenen Meister und Mentoren international selbst gesucht habe, auf der Musikhochschule habe ich nur das Nötigste erledigt.

Dabei habe ich ganz früh gemerkt, dass etwas global schiefläuft. Musik ohne Musikalität ist so wie Junkfood - Essen, dass eigentlich kein Essen mehr ist. Fast alles, was heutzutage eine normale Person tagtäglich hört, ist quasi Junkfood. Und das ist auch nicht genrespezifisch. Egal, ob Pop, Rock, Klassik oder was auch immer. Übrigens gibt es auch viele Musiker in der Klassik, die weltweit Karriere machen und nicht musikalisch sind. Nur sagt niemand etwas, weil eben auch ein Business dahintersteht, aber das ist ein anderes Thema.

Nach langer Lektüre und Studium, welches ständig vorangeht und mir tagtäglich neue Informationen liefert, habe ich dann irgendwann herausfinden dürfen, dass es medizinisch bewiesen ist, dass uns die Musik, die wir hören, biologisch verändert – uns alle, egal ob Musiker oder nicht. Und diese Information veränderte sehr viel in meinem Leben.

Der springende Punkt ist, dass wir aus meiner Sicht dringend generell etwas an der Gesamtqualität ändern müssen. Und dies ist ein langer Prozess. Genauso wie die meisten Krankheiten nach einer langen Zeit des ungesunden Lebens kommen, braucht es eine lange Zeit, um eine Heilung einzuleiten.

So ist es in der Musik auch, wir brauchen jetzt neue Wege, um es vielleicht in 20 Jahren dann wieder hinzubekommen. Und der Zeitpunkt ist gut, da uns die neuen Wissenschaften jetzt zeigen, dass die Musik einen solch enormen Einfluss auf unsere Körper und Gehirne hat und wir das Potential gar nicht ausschöpfen. Wir müssen wir jetzt handeln - und das ist es, was ich den Leuten mitgeben will.

Die Künstliche Intelligenz ist selbst kreativ, liest man oft. Was meinen Sie dazu?

Ingolf Wunder: Maschinenlernen und KI hat ein großes Potential, aber es ist dennoch eine Maschine. Wir sind weiterhin in dem Stadium, wo wir wissen, was sie potentiell machen könnte, aber dennoch muss der Mensch der Maschine noch sagen, was sie zu lernen und was sie zu machen hat.

Das menschliche Feintuning müssen wir aber jetzt in die KI und das Maschinenlernen einbringen. Denn, wenn wir es nicht tun, wird das KI trotzdem weiterwachsen, nur mit der falschen Grundeingabe. Wenn die Eingabe zu wenig Details, zu ungenau ist, oder gar falsch ist, dann wird auch das Maschinenlernen irgendwo hingehen, wo es nicht hingehen soll.

Sie sind dann nicht so begeistert, wenn Huawei Schuberts Unvollendete vollendet hat?

Ingolf Wunder: Es gibt viele solche Projekte, wo man Maschinen mit Werken bekannter Komponisten gefüttert hat und das Ergebnis der Maschine dann so ungefähr nach diesem oder jenem Komponisten klingt. Das wird natürlich auch immer besser.

Aber bis jetzt hat es nicht diese Kreativität, die im Marketing verkauft wird – zum Beispiel quasi eine Komposition "mit der Qualität von Chopin selbst". Wobei es möglich ist, dass es vielleicht irgendwann dahin kommt.

Um zu Schubert zurückzukommen, wenn dann zum Beispiel der Verantwortliche für die Eingabe in die Maschine gar nicht daran interessiert wäre oder nicht wissen würde, wie die Unvollendete wirklich interpretiert gehört und was die Unterschiede alleine in der Interpretation ausmachten, dann wird auch die Künstliche Intelligenz in Zukunft nicht die Qualität produzieren können, die diese wundervolle Musik haben sollte.

Und noch einmal, wir wissen durch die neuen Erkenntnisse der Wissenschaften mehr und mehr, welchen Einfluss Musik auf allen Ebenen auf uns Menschen wirklich hat und wir schöpfen das Potential gar nicht aus – das ist es, was ich den Leuten mitgeben will.

Sie meinten einmal, wir bräuchten die humane Kreativität im Kampf gegen die Künstliche Intelligenz.

Ingolf Wunder: Nun, in 100 Jahren könnte die Maschine so gut sein wie ein Mensch, das ist theoretisch sicher möglich, aber natürlich wünsche ich mir das nicht. Was ich allerdings alarmierend finde, ist, dass wir uns seit Dekaden in puncto Musikalität nicht weiterentwickeln, sondern zurück gehen.

Der Rückgang der Qualität bezieht sich nicht allein auf die Klassik natürlich, wie ich schon sagte, sondern auch in anderen Genres. Prinzipiell mag ich auch die Segmentierung in der Musik nicht, es gibt für mich lediglich andere Eigenschaften und Qualitätsstufen in Musik, aber es bleibt alles Musik, egal ob Pop, Rock oder Klassik.

Wenn man beispielsweise Frank Sinatra einen Standard singen hört, und man vergleicht diesen mit jüngeren Leuten wie etwa Michael Bublé (die singen ja bekanntlich meist die gleichen Songs mit einer fast gleichen Orchestrierung), so kann man sehen, wie gut Frank Sinatra phrasiert hatte, wie gut er das "Groove-Gefühl" und Rubato in sich trug. Und um wie viel schlechter das im Durchschnitt heutzutage ist.

Und all diese Dinge machen in unserem Körper halt Unterschiede, egal ob man das bewusst aufnimmt oder nicht. Und wenn diese Musik nicht die nötige Qualität hat, dann hat das in uns einfach schlechtere Folgen, als wenn es diese höhere Qualität hätte.

Könnten Sie sich zur musikalischen Qualität noch etwas genauer äußern?

"Man muss bedenken, wie unser Gehirn funktioniert"

Ingolf Wunder: Es gibt verschiedene Ebenen, die Interpretationsebene, dann gibt es die Ebene der Komposition aber auch noch weitere. Und dann kommt es auch darauf an, wie viele Unterschiede, Metriken und Muster zu finden sind, und wie diese Muster aufeinander reagieren.

Und dann muss man bedenken, wie unser Gehirn funktioniert – Stichwort "pattern matching", so heißt es im Englischen. Zum Beispiel, wenn man ein paar Takte gehört hat, dann versucht das Gehirn immer zu erraten, was denn als Nächstes kommen möge. Und dann entscheidet, was wirklich kommt über die Reaktion in uns.

Wenn einem aber zum Beispiel immer von vornherein klar ist, was kommen wird, da es so wenige oder primitive Muster gibt, oder es zum Beispiel einfach dümmlich gemacht ist, dann hat man schon die erste Stufe der Bewertung umgesetzt und weiß, dass es nicht so interessant oder qualitativ ist, wie es sein könnte. Und so gibt es noch weitere Ebenen.

Welchen Einfluss hat die Musikindustrie bei dieser Entwicklung?

Ingolf Wunder: Der Einfluss ist natürlich da, keine Frage. Unsere Musik-Bildung arbeitet leider global gesehen nicht auf der Basis von Musikalität, es ist ein bisschen so wie unser normales Schulsystem auch: die Menschen werden im Prinzip dazu ausgebildet, wie in Fabriken wie Maschinen zu arbeiten. Das war ja der ursprüngliche Sinn des Schulsystems des 20. Jahrhunderts.

Die meisten Leute, die heutzutage im Musik-Business entscheiden, haben mit so einem Ausbildungssystem natürlich all diese Dinge, die ich gerade erklärt habe, sehr oft nicht im Bewusstsein.

Und prinzipiell wie in jedem Feld, wenn der Markt alleine entscheidet, was gemacht wird, geht es dann mit der Qualität eigentlich immer bergab.

"Ohne hochqualitative Kunst gibt es keine Kultur, ohne Kultur gibt es kein wir" haben Sie mal gesagt. Könnten Sie das näher erklären?

Ingolf Wunder: Zur Klarstellung, da es im Deutschen hier unterschiedliche Terminologien gibt. Hohe Kunst ist für mich immer hochqualitative Kunst und nicht eine Kunst, die nur von Reichen gemacht oder konsumiert wird. Ich habe mittlerweile 50 Länder bereist, dort konzertiert und dabei Erstaunliches festgestellt. In den Ländern, wo die Leute ökonomisch sehr arm sind, bekommt meist die Hohe Kunst mehr Bedeutung. Es scheint, dass Kunst in solchen Ländern wichtiger ist als etwa in Österreich, Deutschland, Schweiz oder anderen entwickelten Ländern, wo es den Leuten sehr gut geht und jeder machen kann, was er will. Da scheint dann die Kunst nicht mehr so wichtig zu sein, da wird sie dann zum Accessoire.

Was bedeutet, dass es kein "wir" gibt?

Ingolf Wunder: Was bleibt von den Gesellschaften von früher meist über? Deren Kunstwerke, welche wir dann in den Museen bewundern.

Und Musik gehört zur Kunst. Damals gab es nur die Technologie noch nicht, um diese aufzunehmen. Doch jetzt haben wir sie. Es ist ultimativ immer die Kunst, die uns als Gesellschaft ausmacht. Und wenn wir diese langsam aber sicher verfallen lassen, oder die Qualität so arg verkommen lassen, dann sieht es um die Gesellschaft heutzutage nicht so gut aus im historischen Zusammenhang.

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