Kafka in Genf
Beim Weltgipfel zur Informationsgesellschaft geht es auch darum, wie weit erstmals nichtstaatliche Organisationen integriert werden - ein Experiment Machtbalance im globalen Dreieck zwischen Regierung, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft
Der Weltgipfel zur Informationsgesellschaft ist auf die Streckbank zwischen Tradition und Innovation geraten. Das Interessante dabei ist, dass es nicht die Inhalte sind, bei der sich die 800 staatlichen und 700 nicht-staatlichen Teilnehmer der 2. Vorbereitungskonferenz in die Haare gekriegt haben, sondern das Prozedere (Von den Visionen zur Realität). Der Casus Belli ist die Frage, wie weit die Regierungen die Türe zum Gipfel für Zivilgesellschaft und Privatindustrie öffnen (siehe auch Welt ans Netz bis 2010).
Seit eh und je sind UN-Gipfel - man denke an die Weltkonferenzen zum Klimaschutz in Rio, zur nachhaltigen Entwicklung in Johannesburg oder zu den Menschenrechten in Wien - ein Terrain für Diplomaten. Geschulte Regierungsbeamte feilschen mitunter bis weit nach Mitternacht in kleinen oder großen Verhandlungsgruppen um diplomatische Formulierungen für Deklarationen und Aktionsprogramme, deren Texte oft ebenso schwer verständlich sind, wie deren Umsetzung nebulös ist. Die eigentlich Betroffenen und Beteiligten - die Zivilgesellschaft und die Privatwirtschaft - sitzen in der Regel draußen vor der Türe und versuchen sich im Lobbyismus oder treffen sich beim "Gegengipfel" auf der Straße.
Beim Weltgipfel zur Informationsgesellschaft - der in zwei Phasen im Dezember 2003 in Genf und im November 2005 in Tunis stattfindet - soll das alles anders werden. Erstmals, so das Mandat dieser wohl gigantischsten Konferenz der UN-Geschichte, sollen nicht-staatliche Gruppen in die Konferenz integriert werden. Der Weg vom Anspruch zur Wirklichkeit ist aber komplizierter als es sich die Väter der Öffnung der Gipfeldiplomatie vorgestellt haben.
Reinkommen ja, mitreden nein?
Der Punkt ist, dass die verschiedenen Akteure unter "Öffnung" Unterschiedliches verstehen. Die bislang Ausgeschlossenen gehen davon aus, dass sie, wenn sie denn nun schon rein können in die Verhandlungsräume, auch mitreden und an einigen Punkten mitentscheiden können. Die meisten Regierungen verstehen unter Öffnung dagegen "reinkommen ja, aber mitreden nein".
Wie in einem Brennspiegel zeigte sich dieser Konflikt am letzten Tag der 2. Vorbreitungskonferenz (PrepCom 2) zum Gipfel vorige Woche in Genf. Die 180 Regierungen hatten sich nach langem hin und her auf einen ersten Rohentwurf einer Deklaration und eines Aktionsprogramms geeinigt. In den wesentlichen inhaltlichen Eck-Punkten herrschte weitgehend Einmütigkeit: Bis zum Jahr 2015 sollen alle Schulen dieser Welt online und in jedem Dorf mindestens ein öffentlicher Internet Zugang sein. Bildung für jedermann wird als ein Schlüsselelement auf diesen Weg zur vernetzten Informationsgesellschaft gesehen, um eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen, die schrittweise nicht nur das Elend dieser Welt mindert, sondern auch dem Einzelnen immer mehr Möglichkeiten einräumt, seine Fähigkeiten zu entfalten. Man brauche eine neue globale Kultur der Sicherheit im Cyberspace. Die "digitale Spaltung" (Digital Divide) soll durch "digitale Solidarität" (Digital Solidarity) in "digitale Möglichkeiten" (Digital Opportunities) gedreht werden.
So weit so gut. Das Neue war nun, dass dieses Dokument nicht nur von den 800 Regierungsvertretern Wort für Wort durchleuchtet und mit Ergänzungsvorschlägen bedacht wurde, sondern dass sich die Zivilgesellschaft gleichfalls ans Analysieren machte und binnen 24 Stunden einen substantiellen Ergänzungsvorschlag vorlegte, der an eindeutiger Formulierung, Praxisnähe und Sachkompetenz nichts zu wünschen übrig ließ. Zu fast jedem der 92 Punkte des Deklarationsentwurfes hatte die Zivilgesellschaft, die sich in Genf wie selten zuvor diszipliniert und organisiert präsentierte, etwas Eigenständiges zu sagen. Und in nicht wenigen Fällen wurden die Regierungsformulierungen vom Kopf auf die Füße gestellt.
Nicht Kommunikationstechnologie und Infrastruktur sollten im Mittelpunkt der globalen Informatonsgesellschaft stehen, sondern die Kommunikationsbedürfnisse der Menschen und ihre Informationsrechte. Traditionelle Medien, Satelliten, Internet und mobile Kommunikationsmaschinen seien Instrumente, die einem Zweck dienten und kein Selbstzweck. Themen, die im Regierungsentwurf gar nicht oder allenfalls am Rande auftauchten wie Open Source, Peer-to-Peer und Fair Use, wurden ins Rampenlicht geholt. Es dürfe nicht nur um "Märkte", sondern es müsse auch um "Werte" gehen. Und die "politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen" müssten eine Balance schaffen zwischen individuellen Rechten und Freiheiten einerseits und staatlichen Interessen nach Sicherheit im Cyberspace und wirtschaftlichen Interessen nach Verwertung der Ware Information andererseits.
Rein oder Raus oder Was?
So wenig neu diese Forderungen der Zivilgesellschaft waren, so innovativ war die Art und Weise, wie sie vorgetragen wurden. Was früher auf Spruchbändern bei Straßendemonstrationen stand, fand sich jetzt wieder als quasi offizielles Konferenzdokument in den Postfächern der Diplomaten. Insofern konnte es im Grunde genommen nicht überraschen, dass unter den Regierungsdelegationen der Streit darüber ausbrach, wie man denn mit dieser in diplomatischer Form daher kommenden "Einmischung von draußen" umgehen solle.
Während die südafrikanische Vorsitzende der Regierungsverhandlungsgruppe die zivilgesellschaftlichen Vorschläge gleichberechtigt mit in die weiteren Verhandlungen aufnehmen wollte, sperrte sich der pakistanisch Delegierte mit aller Wucht dagegen. Regierungen sollten sich nur mit dem beschäftigen, was Regierungen vorschlagen. Schützenhilfe erhielt er von einigen lateinamerikanischen Regierungen, die zwar nichts gegen die Zivilgesellschaft hatten, aber gegen einen zu starken Einfluss der Privatwirtschaft.
An dieser Frage - Rein oder Raus und wenn Rein wie weit? - schien die Konferenz fast zu zerbrechen. Zwar ist auch den Regierungen klar, dass ein Weltgipfel zur Informationsgesellschaft ohne "Gesellschaft" eine absurde Veranstaltung wäre, zugleich aber sehen nicht wenige hier einen Präzedenzfall reifen, der die traditionelle Art und Weise von Politikentwicklung und Entscheidungsfindung aus den Angeln heben könnte. Der "Politik von oben" (Top Down) stellt sich einer "Politik von unten" (bottom up) in den Weg.
Die jetzt anvisierte Quadratur des Kreises beim Informationsgesellschaftsgipfel - die Türen der Verhandlungssäle zu öffnen aber Mitspracherechte zu verweigern - ist zunächst erst einmal auf eine Zeitschiene gelegt worden. Bis zum 21. März 2002 soll das UN-Sekretariat aus den vorliegenden Arbeitsdokumenten und den eingegangenen Kommentaren einen neuen Entwurf erarbeiten. Der soll dann ins Netz gestellt und zehn Wochen offen für Kommentare sein. Die nichtstaatlichen Gruppen können sich selbstredend online zu Wort melden. Ob ihre Vorschläge jedoch in die nachfolgenden Regierungsverhandlungen, die Ende Juli 2003 in Paris weitergehen sollen, einfließen oder im Papierkorb landen, ist noch unklar.
Klar ist hingegen, dass die Zivilgesellschaft, die sich jetzt mit einem eigenen Verbindungsbüro und einer auch online tagenden eigenständigen Verhandlungsgruppe zu "Themen und Inhalten" in bemerkenswerter Weise strukturiert und institutionalisiert hat, zur 3. Vorbereitungskonferenz im September 2003 in Genf mit konkreten Vorschlägen wieder vor der Türe stehen wird.
Armtwisten um Machtbalance im Cyberspace
Es wäre zu einfach, dass "Rein und Raus" als absurdes Gipfeltheater zu ironisieren. Beim Armtwisten um das Prozedere geht es ja nicht darum, wer z.B. den Paragraphen Nummer Soundso zur kulturellen Vielfalt in der Informationsgesellschaft formulieren darf, sondern darum, wie Politikformulierungs- und Entscheidungsmacht in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts neu aufgeteilt wird. Der Einzug der Zivilgesellschaft und der Privatwirtschaft in die diplomatischen Verhandlungsräume führt unweigerlich zu einer neuen globalen Machtverteilung und damit erst einmal zu einem Machtkampf. Und niemand weiß im Moment wie eine neue Machtbalance im globalen Dreieck zwischen Regierung, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft aussehen soll.
Insofern ist das kafkaeske Theater im Genfer "Schloss" eigentlich nichts anderes, als ein großes Erkundungsprojekt über die Art und Weise des Managements der globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Wolfgang Kleinwächter ist Professor für internationale Kommunikationspolitik an der Universität Aarhus.