Von den Visionen zur Realität
Zivilgesellschaft auf der Treppenleiter zum Weltgipfel der Informationsgesellschaft
Die 2. Vorbereitungskonferenz (PrepCom2, Genf, 17. - 28. Februar 2003) zu dem im Dezember 2003 stattfindenden "Weltgipfel der Informationsgesellschaft" (World Summit on the Information Society/WSIS) hat sich in ihrer ersten Halbzeit vornehmlich darin erschöpft, die prozeduralen und inhaltlichen Startpositionen abzuklären. Zur Sache geht es ab heute, wenn die einzelnen Gruppen - Regierungen, Zivilgesellschaft und Industrie - in konkrete Verhandlungen um die Abschlussdokumente des Gipfels - eine Deklaration und ein Aktionsprogramm - eintreten (vgl. auch Die "Civil Society" und die Weltinformationsgesellschaft).
Die erste Woche gehörte den Visionären. In zwanzig Roundtables, Workshops und Vorlesungen entwickelten die "Wissensträger" dieser Welt - von Lawrence Lessig (Stanford University), Robin Mansell (London School of Economics), Cees Hamelink (Universtität Amsterdam) und Francis Cairncross (The Economist) bis zu Maria Cattaui (International Chamber of Commerce), Bruno Lanvin (Weltbank), Latif Latid (Ericsson) und Lauren Hall (Microsoft) - ihre Vorstellungen von der globalen Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Die digitale Kluft soll überwunden werden, Informationstechnologien sollen einen wesentlichen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten, das Recht auf Kommunikation für jedermann muss wie der Zugang zu Wissen und Netzen gewährleistet werden. Der Cyberspace soll vor Kriminellen geschützt werden, wobei die Privatsphäre des Einzelnen nicht freigegeben werden dürfe für unerträgliche staatliche Schnüffelei. Geistiges Eigentum sollte geschützt werden, ohne dass dabei die freie Austausch von Ideen und Informationen leidet. Die Liste der Themen wurde mit jedem Konferenztag länger.
Doch während in den großen Sälen der Genfer UN-City die Visionen per Powerpoint an die Leinwände geworfen und eine dreiseitige Kooperation zwischen Regierungen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft beschworen wurden, begann hinter den Kulissen bereits die politischen Auseinandersetzungen um Prozeduren und Inhalte.
Die 1. Vorbereitungskonferenz (PrepCom1) hatte im Juni 2002 mit der Bildung eines Unterausschusses für Inhalte und Themen (Sub-Committee 2 on Content and Themes) geendet, in dem jedoch nur die Regierungen vertreten sind. Das von den Regierungen vorgebrachte Argument, man wolle zwar auf die Stimmen nicht-staatlicher Vertreter hören, die Verhandlungen selbst aber seien ausschließlich ihre Sache, stieß bei den "Ausgeschlossenen" auf erhebliche Kritik. Das Argument, angesichts der verwirrenden Vielfalt von Hunderten nicht-staatlicher Gruppen wisse man ja gar nicht, mit wem man worüber reden sollte, mobilisierte aber bei den akkreditierten Vertretern der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft (Civil Society Organisations/CSOs) auch ein Nachdenken darüber, wie man sich denn konstituieren müsse, um als Verhandlungspartner der Regierungen ernst genommen zu werden und einen eigenständigen Beitrag zum Gipfelerfolg leisten könne, der über "Beratung" von oder "Lobbyismus" bei den Regierungen hinausgeht.
Auf der einen Seite formierte die private Wirtschaft ein "Business Contact Commitee", das jetzt von der "International Chamber of Commerce" (ICC) koordiniert wird und dem große globale Netzwerke der privaten Wirtschaft - vom "Global Business Dialogue on eCommerce" (GBDe) bis zur "Global Information Infrastructure Commission" (GIIC) - angehören, die wiederum Unternehmen wie IBM, Bertelsmann, AOL/TimeWarner, Fujtsu, Nokia, Hewlett Packard, Ericsson, DaimlerChrysler, Cisco, Microsoft, Siemens, Intel, Vivendi, Telefonica etc. vertreten.
Auf der anderen Seite versuchte die Zivilgesellschaft über die noch während der PrepCom 1 gegründete "Civil Society Coordinating Group" den Input der CSOs zu strukturieren und inhaltlich zu organisieren. Die Koordinierungsgruppe legte im Dezember 2002 dem WSIS-Sekretariat ein umfangreiches Arbeitspapier zu allen inhaltlichen Punkten des Gipfel vor und demonstrierte damit, dass ungeachtet der unübersehbaren Vielfalt der CSOs wichtige Gruppen in wesentlichen Fragen durchaus verhandlungsfähige Positionen entwickeln können, eine Fähigkeit, die den CSOs bislang weitgehend abgesprochen worden war.
Civil Society Family: Einen neue Binnenstruktur für die Zivilgesellschaft
Auch hinsichtlich der Entwicklung einer arbeitsfähigen Binnenstruktur der manchmal etwas chaotischen Zivilgesellschaftsdiskusssionen wurde bereits im Vorfeld der PrepCom2 eine Art Durchbruch erzielt. Der Vorschlag, die CSOs sollten sich je nach ihrer Herkunft und ihren Interessen zunächst in etwas überschaubareren "Familien" organisieren und dann ein eigenes Koordinierungsbüro bilden, erwies sich als durchaus produktiv. Binnen weniger Tage wuchsen aus den ursprünglich angedachten zehn CS-Familien 21 Gruppen. Dazu gehören jetzt "Familien" wie die für soziale Bewegungen, für Medien, für Gewerkschaften, für Lehre und Forschung, für Think-Tanks, für Wissenschaft und Technik, für nachhaltige Entwicklung, für nicht-staatliche Organisationen, für Frauen, für die Jugend, für regional tätige CSOs und NGOs etc. Das "Familienkonzept" erlaubt praktisch jeder Organisationen, sich einer Familie anzuschließen oder eventuell auch eine neue Familie zu gründen. Damit können bislang vereinzelt operierende Gruppen ihre Stimmen bündeln und ihren Ansichten und Zielen größeren Nachdruck verleihen.
Kritiker innerhalb der Zivilgesellschaft befürchteten sofort, dass das "Familienkonzept" zu einer "Entmündigung der Basis" durch einen "von oben" (top down) eingesetzten "Familienrat" und zu einer "Verbürokratisierung" des ganzen WSIS-Prozesses führen könne. In turbulenten Diskussionen zwischen über 500 angereisten Zivilgesellschaftsvertretern obsiegte aber schließlich die Einsicht, dass ohne eine strukturierte Vorgehensweise sich die Zivilgesellschaft als Ganzes ihres möglichen Einflusses selbst berauben würde. Unter der Bedingung, dass das "Familienkonzept" nicht die Souveränität der einzelnen Organisationen unterminieren dürfe und das Prinzip der "Politikentwicklung von unten" (bottom up) strikt eingehalten werden müsse, stimmten schließlich die Mehrheit der anwesenden Vertreter dem Vorschlag zu.
Dieser Konsensus ebnete den Weg zur Bildung eines "Zivilgesellschaftsbüros" für prozedurale Fragen, in das jede Familie einen Vertreter entsenden kann. Dieses Büro soll während der kommenden Jahre mit dem Exekutivsekretariat des Gipfels und vor allem mit dem Büro der UN-Mitgliedsstaaten die Modalitäten der Interaktion zwischen Regierungen und Zivilgesellschaft abklären. Gleichzeitig bildete die "zivilgesellschaftliche Koordinierungsgruppe für Inhalte" etwa 15 Themen orientierte "Content Groups", die sich jetzt im einzelnen um die jeweiligen Sachverhalte kümmern.
Jeder Familie steht es frei, sich entweder selbst als "Content Group" zu konstituieren, wie z.B. die "Medienfamilie", oder ihre Experten in die einzelnen Inhaltsgruppen zu entsenden. Die "CS Content Groups" wiederum sind gehalten, zu den einzelnen Sachfragen verhandlungsfähige Positionen und Amendements zu erarbeiten, die in den zwischenstaatlichen Verhandlungsprozess eingebracht werden sollen. Dabei geht man selbstredend davon aus, dass es nicht primär darum geht, kontroverse Ansichten zwischen verschiedenen CSOs in einem zivilgesellschaftlichen Konsensus aufgehen zu lassen, sondern darum, verhandelbare Positionen verschiedener CSOs in den Prozess der Ausarbeitung der Gipfeldokumente einfließen zu lassen.
Parallele Verhandlungen und konstruktive Einmischung
Mit relativ hoher Geschwindigkeit demonstrierten die über 500 Zivilgesellschaftsvertreter, dass sie nicht nur in der Lage waren, das 21-köpfige Büro für die Prozedurfragen zu wählen, sondern auch zügig mit der Ausarbeitung von Statements zu den Sachfragen zu beginnen. Die "Mediengruppe", der u.a. die Europäische Rundfunkorganisation (EBU), das World Press Freedom Committee (WPFC), Article 19 und die International Association for Media and Communication Research (IAMCR) angehören, produzierte noch am Freitag ein "14 Punkte Papier", das u.a. Forderungen enthält wie die Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten im Bereich von Information und Kommunikation, Pluralismus und Vielfalt in der Medienlandschaft, bezahlbare Zugangskosten zum Internet und die Sicherung der Privatsphäre bei elektronischer Kommunikation. Andere "CS Content Groups" wie die zur "digitalen Spaltung", zur "kulturellen Vielfalt", oder zu "Internet Governance" haben ähnliche Statements angekündigt.
De facto gibt es damit einen parallelen Verhandlungsprozess: In der offiziellen Verhandlungsgruppe des für Inhalte zuständigen Unterausschusses 2 verhandeln die Regierungen untereinander. In den "CS Content Groups" wird dieser Prozess begleitet, gespiegelt, ergänzt oder kritisiert. Geht es nach den Willen der Zivilgesellschaft, sollen so früh wie möglich die "CS Content Groups" in informelle Gespräche mit den jeweiligen Expertengruppen der Regierungen eintreten, um abzuklären, wie die Interessen und die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft in den Gipfelkonferenzprozess einfließen können.
Im Moment ist jedoch noch völlig offen, wie die Regierungen auf dieses Angebot der "konstruktiven Einmischung" reagieren. Die Regierungsvertreter der über 180 UN-Mitgliedstaaten hatten in den ersten Tagen der PrepCom2 erst einmal damit zu tun, formelle Fragen zu klären: Wahl des Vorsitzenden des Unterausschusses und der Mitglieder der Verhandlungsgruppe. Der Streit brach dann schon darüber aus, welches der vorliegenden Dokumente - die Erklärung von PrepCom1, die Zusammenfassung der fünf regionalen Konferenzen oder das vom Präsidenten der WSIS erstellte "Non-Paper" - als Arbeitsgrundlage für die Schlussdokumente genommen wird. Der nächste Streit ging darum, wie das Dokument überhaupt strukturiert sein und welche Überschriften für die Unterabschnitte der Abschlussdokumente formuliert werden sollen. Niemand kann sagen, wann es denn mit den eigentlichen Sachverhandlungen losgehen soll.
Dabei finden wie bereits bei der ersten PrepCom die Verhandlungen der Verhandlungsgruppe der Regierungen wieder hinter verschlossenen Türen statt. Die Frage, ob die Regierungen überhaupt bereit sein werden, sich mit den "CS Content Groups" an einen Tisch zu setzen und in eine Art "informelle Verhandlungen" einzutreten, ist überhaupt noch nicht diskutiert worden. Zum "Showdown" über die Ernsthaftigkeit der immer wieder betonten Bereitschaft, die Erfahrungen und Kompetenzen nicht-staatlicher Gruppen in den Gipfelprozess einzubeziehen, wird es kommen, wenn in der 2. Konferenzwoche die Expertengruppen der Zivilgesellschaft über ihr Büro die Regierungen zu informellen Sachgesprächen über konkrete Inhalte einladen. Dabei wird sich die Zivilgesellschaft nicht damit zufrieden geben, ihre Statements über einen Postboten in schriftlicher Form beim Sekretär der staatlichen Verhandlungsgruppe abzugeben ohne eine Garantie dafür zu haben, daß ihre Ansichten sich auch in den Gipfel-Dokumenten widerspiegeln.
Six Steps to Heaven: Von "Draußen vor der Tür" zu "Drinnen im Saal"
Wenn es die Regierungen ernst nehmen mit dem von UN-Generalsekretär Kofi Annan angedachten neuen Format einer UN-Gipfelkonferenz, die von vornherein Regierungen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft einbezieht, müssten die Zugangs- und Mitspracherechte der nicht-staatlichen Akteure bei der Ausarbeitung der Gipfeldokumente bald präziser geklärt werden. In Genf machte ein "Sechs-Stufen-Plan" die Runde, der theoretisch die verschiedenen Mitwirkungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft beschrieb:
- Stufe 1: Kein Zugang zu den Verhandlungen;
- Stufe 2: Zugang zu den Verhandlungen, aber kein Rederecht;
- Stufe 3: Zugangs- und Rederecht, aber kein Verhandlungsrecht;
- Stufe 4: Zugangs-, Rede- und Verhandlungsrecht, aber kein Stimmrecht;
- Stufe 5: Zugangs, Rede-, Verhandlungs und Minoritätsstimmmrecht,
- Stufe 6: gleiche Stimmrechte wie Regierungen.
Momentan, so sehen es die CSOs, sei man in Genf noch zwischen Stufe 1 und 2, allenfalls im Plenum der Konferenz bei Stufe 3. Bei der asiatischen Regionalkonferenz im Januar 2003 war demgegenüber bereits die Stufe 4 praktiziert worden. CSOs wie GLOCOM, Internet Society und andere waren in die Verhandlungen zur "Tokio Deklaration" mit einbezogen, durften aber nicht formell mit darüber abstimmen.
Das "Tokio Modell" wird jetzt in Genf als ein Etappenziel für den Weg bis zum Gipfel im Dezember 2003 angesehen. Der Erfolg der Gipfels hängt folglich nicht nur davon ab, ob sich die Regierungen untereinander auf eine "Deklaration" und ein "Aktionsprogramm" verständigen können, sondern ob diese Dokumente auch die Zustimmung der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft finden.
Sollten die Regierungen jedoch ausgiebig vom Paragraphen 55 ihrer auf der PrepCom1 angenommenen Verfahrensregeln - begrenzte Zugangs- und Rederechte und keine Verhandlungs- oder Stimmrechte für nicht-staatliche Akteure - Gebrauch machen, dann würden wahrscheinlich diejenigen Gruppen der Zivilgesellschaft mehr Zulauf bekommen, die den sogenannten "Plan B" favorisieren: Veranstaltung eines Gegengipfels (wie jüngst in Porto Alegre zum Davoser Weltwirtschaftsforum) und öffentlichkeitswirksame Auftritte auf der Straße.
Wolfgang Kleinwächter ist Professor für internationale Kommunikationspolitik an der Universität Aarhus und Mitglied der "CS Think-Tank Family".