Kaiser gegen Kanzler
Leipziger Hartz-Offensive: Lafontaine, der Saar-Napoleon, greift jetzt von Osten an
Die Rückkehr des Kaisers: Am 1. März 1815 landete Napoleon mit seinen Getreuen an der französischen Mittelmeerküste in der Nähe von Cannes. Weniger als ein Jahr hatte es ihn auf Elba gehalten, wohin in die europäischen Potentaten nach der Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig verbannt hatten. Vive l'Empereur - Vive la France schallte es ihm entgegen. In Eilmärschen zog der ehrgeizige Korse nach Paris, die Macht fiel ihm wie eine reife Frucht in den Schoß. Das Große Spiel begann erneut - um die Macht in Europa, um eine neue Gesellschaft, um die Liebe der Frauen. C'est la vie. Das Herz schlägt links.
Ein Wimpernschlag der Weltgeschichte danach schlottert die Reaktion erneut, und wieder jubeln die Jakobiner: Ein anderer Verfemter kehrt aus der Verbannung zurück und sammelt seine Truppen. Sowenig sich sein weltberühmter Vorgänger auf einer Insel festhalten ließ, sowenig kann man Oskar Lafontaine in der saarländischen Provinz einmauern. In einer strategischen Rochade, die in der Militärgeschichte ihresgleichen sucht, wechselt der kampflustige General aus dem äußersten Westen der Republik auf die östliche Flanke und sucht den Durchbruch auf verbrannter Erde: Die neuen Bundesländer, in denen der Kanzlerkandidat Lafontaine 1990 die Bundestagswahl verlor, sollen nun das Terrain für den Sturmangriff auf die Hauptstadt sein.
Genau dort, wo der Kaiser der Franzosen in der Völkerschlacht eine seiner bittersten Niederlagen erlitt, sucht heute sein Nachfolger Satisfaktion: in Leipzig, der angeblichen Heldenstadt. Auf Einladung des örtlichen Aktionsbündnisses soll der Ex-SPD-Chef dort am 30. August auf der Montagsdemonstration sprechen. "Lafontaine steht unseren Positionen nah, insofern ist er unser Partner", erläutert Thomas Rudolph von der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) diese Entscheidung. Man wolle eine Demonstration "von bundesweiter Bedeutung" auf die Beine stellen, erklärte Rudolph. Das sei allein mit der Einladung des Saarländers bereits geglückt.
Das Gezeter war groß. "Die Sachsen brauchen keine Belehrungen von jemandem, der sich 1999 aus der Verantwortung gestohlen hat", sagte der sächsische SPD-Chef Thomas Jurk in Dresden. In Erfurt kommentierte sein Thüringer Amtskollege Christoph Matschie Lafontaines geplanten Auftritt mit den Worten: "Er spielt mit den Ängsten der Betroffenen, um seinen eigenen Vorteil heraus zu ziehen." Der Neid der Verlierer: Matschie fuhr bei den Landtagswahlen im Juni eine kräftige Schlappe ein, Jurks Truppe werden beim Urnengang in Sachsen im September bei Umfragen zum Teil weniger als zehn Prozent prognostiziert.
Besonders interessant ist, dass sich in Leipzig die WASG für den Auftritt des Saarländers stark macht. Das Kürzel steht für Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit - einem bundesweiten Verein abtrünniger SPD-Mitglieder und Gewerkschafter. Bereits 3000 Menschen haben sich der WASG seit ihrer Gründung Anfang Juli angeschlossen. Die Umwandlung in eine Partei via Urabstimmung soll bis Ende Januar 2005 abgeschlossen sein. Lafontaine ist zwar immer noch Mitglied der SPD und will sogar nach der Sommerpause im saarländischen Landtagswahlkampf für seinen Parteifreund und SPD-Spitzenkandidaten Heiko Maas werben, doch macht er der neuen Linkspartei bereits Avancen:
Es geht mit Schröder nicht mehr ... Ich kämpfe für eine wirkliche Neuorientierung der SPD. Wenn dies nicht gelingt, werde ich eine Wahlalternative unterstützen.
Der Mainzer Parteienforscher Jürgen Falter schätzt das Potenzial einer neuen Linkspartei mit Oskar Lafontaine als Spitzenkandidat auf "15 bis 20 Prozent". In diesem Fall "besteht für die SPD Anlass zu großer Sorge". "Sowohl PDS als auch die Sozialdemokraten wären bei den nächsten Wahlen die Verlierer", glaubt Falter. Die SPD würde es aber deutlich schlimmer treffen (Oskar und die neuen Roten).
Pfaffen und andere Kompromissler
Die Geschichte der französischen Revolution ist voll von Intrige und Verrat, von Heuchlern und Kompromisslern. Napoleon musste bei seiner Rückkehr nach Paris einen langen Umweg in Kauf nehmen, um nicht in den mehrheitlich royalistischen Provinzen in die Hände seiner Gegner zu fallen. Auch Lafontaines Vormarsch nach Leipzig wird noch von allerhand Wegelagerern und Heckenschützen bedroht.
"Dass Lafontaine spricht, kommt überhaupt nicht in Frage", empörte sich Pfarrer Christian Führer. "Hier haben noch nie Politiker gesprochen, hier wird kein Wahlkampf gemacht." Ähnlich äußerte sich Wilfried Helbig vom Leipziger Sozialforum. Auch Markus Schlimbach, Pressesprecher des sächsischen DGB, meinte, "es wäre besser, wenn Politiker sich von den Demonstrationen fernhielten". Stefan Brangs von ver.di Sachsen sagte, er hoffe, "dass diese Demonstration nicht zu einer Lafontaine-Demo mutiert". Brangs betont die "gesellschaftliche Verantwortung" des Bündnisses. Was das heißt? Man dürfe nicht die "falsche Hoffnung wecken, dass man Hartz IV noch verhindern kann". Maximal seien "weitere Nachbesserungen für den Oste" zu erreichen. "An dieser Frage trennt sich eben die Spreu vom Weizen", reagierte Lafontaine-Einlader Rudolph auf die Kritik. "Hartz muß weg - kleinere Korrekturen reichen nicht aus", sagte er.
Eine besonders raffinierte Strategie verfolgt der Leipziger DGB-Vorsitzende Bernd Günther. Sein Vorschlag für den letzten Montag im August: "Die Politiker, die das eingebrockt haben, zum Beispiel Clement oder Stolpe, sollten sich vor den Menschen äußern." Lafontaine könne gegebenenfalls im Anschluss daran sprechen, so Günther. Aber vielleicht hat sich der geniale Stratege mit diesem Vorschlag selbst ausgetrickst: Lafontaine als Schlussredner würde den Hartz-Brutalo Clement locker an die Wand spielen, und Stolpe, dem ältesten Minister westlich von Wladiwostok, würde sein Ostbonus auch nicht viel nützen.
Letzte Meldung: In der Leipziger WASG hat am Donnerstag eine Art Palastrevolution stattgefunden. Bei der formellen Gründung eines Kreisverbandes wurde Lafontaine-Freund Thomas Rudolphs nicht in den Vorstand gewählt, in einer Presseerklärung kryptisch dessen "Blockadehaltung" beklagt und die Einladung an Lafontaine de facto widerrufen. Der Saarländer könne "als Bürger ... mit den Bürgern Leipzigs demonstrieren", heißt es darin generös, von einer Kundgebungsrede Lafontaines ist keine Rede mehr. Betont wird, man wolle die Einheit der Leipziger Montagsdemonstration wahren - das geht natürlich nur, wenn man auf die oben zitierten Lafontaine-Gegner Rücksicht nimmt.
In einer Presseerklärung behauptet der Arbeitsausschuß der WASG Leipzig, dem auch Rudolph angehört, inzwischen die angeblich Gründung eines WASG-Kreisverbandes am Donnerstag als nicht satzungsgemäß. Was stattgefunden habe, sei entweder eine "plumpe Fälschung oder ein gezieltes Störmanöver".
Marx sei Dank ist das Hick und Hack der Leipziger WASG nicht entscheidend - Lafontaine wurde schließlich von einem Aktionsbündnis eingeladen, und davon ist die WASG nur ein Teil. Der Saarländer hat angekündigt, auf jeden Fall auftreten zu wollen -das ist der Stil Napoleons, eine kaiserliche Anmaßung, die in solchen Situationen hundert mal mehr Wert ist als alle Basisdemokratie. Am 30. August treffen sich die sächsischen Jakobiner also in Leipzig. Ausnahmsweise heißt es dann nicht: Wir sind das Volk, sondern: Vive le peuple! Vive l'Empereur!