Kampf aller gegen alle

Bild: Sciencia58/CC BY-SA 4.0

Reparaturkategorie "Zusammenhalt der Gesellschaft". Ein Kommentar zur ARD-Themenwoche: "Wir gesucht".

Symbol – Ein Bettler träumte von einem Millionär. Als er aufwachte, traf er einen Psychoanalytiker. Der erklärte ihm, der Millionär sei ein Symbol für seinen Vater. "Merkwürdig", antwortete der Bettler.

Max Horkheimer

Die ARD hat letzte Woche eine Themenwoche zu der Fragestellung "Wir gesucht. Was hält uns zusammen?" veranstaltet. Die vom Autor dieser Zeilen schon oft vorgetragene These dazu lautet: Wenn über Fragen des Zusammenhalts einer Gesellschaft und ihrer sie tragenden Werte ernsthaft gesprochen werden muss, ist es eigentlich bereits zu spät.

Eine funktionierende und gut integrierte Gesellschaft muss darüber nicht diskutieren. Der Zusammenhalt ist da, wie die Luft, die die Menschen umgibt und die sie atmen. Mit den Werten verhält es sich ähnlich wie mit den Vitaminen: Man merkt ihre Bedeutung erst dann, wenn es einem an ihnen mangelt. Nur dass es Werte nicht als Brausetabletten gibt, die man als Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen kann.

Es rächt sich nun, dass der Zusammenhalt in einer kapitalistischen Gesellschaft vom Markt gestiftet wird und dass es außer Geld nichts gibt, was ihre Mitglieder interessiert und zusammenhält. Die Marktvergesellschaftung ist expansionistisch und zehrt die verbliebenen Gemeinschaften, ihren Widerpart, auf. Unterm Neoliberalismus ist der Tauschwert bis in die Poren des Alltagslebens vorgedrungen und hat die letzten Reste traditioneller Gemeinschaftlichkeit zerstört.

Die Vermittlungen und Zwischenstufen, die das Individuum vom Markt trennten und es vor ihm schützten, werden geschleift. Die Menschen werden vom Markt vollständig vereinnahmt und sie erleben ihr Leben nur noch als sinn- und ziellosen individualistischen Kampf aller gegen alle.

Wir sind in den Zustand einer a-sozialen Dekadenz eingetreten und befinden uns in moralischer Auflösung. Werte, Zusammenhalt, Sinn – das sind Reparaturkategorien, die zu spät kommen und lediglich den Untergang flankieren.

Steinerne Abweiser

"Zwischen St. Pauli und Hamburg-Neustadt befindet sich ein Ort, der mehr erzählt, als er will. Unter der Kersten-Miles-Brücke liegen spitze Steine, die optisch scheinbar mustergültig ins Gesamtbild der Unterführung passen. Wer nicht weiß, welchen Zweck die ästhetisierten, in den Boden betonierten Spitzbrocken erfüllen, findet das Ambiente vielleicht heimelig. Tatsächlich liegen die Steine hier, damit Obdachlose nicht mehr unter der Brücke schlafen können. 100.000 Euro hat sich Hamburg diese Umgestaltung kosten lassen."

Christian Baron, dem wir die Erinnerung an diese bereits im Jahr 2011 vollzogene Schikane verdanken, fragt in der Süddeutschen Zeitung vom 11. November 2022 zu Recht, warum die Kersten-Miles-Brücke keine Berücksichtigung im Rahmen der ARD-Themenwoche fand.

Eine mögliche Antwort wäre: Weil die Armut weiter zugenommen hat und diese Gesellschaft sich darauf festgelegt hat, es sich etwas kosten zu lassen, ihre Ursachen bestehen zu lassen und ihre Folgen repressiv zu bekämpfen. Im günstigsten Fall alimentiert der Staat die Armen, aber an die Ursachen der Armut kann und will er nicht rühren.

Obdachlose werden behandelt wie Tauben, an deren Landeplätzen man spitze Abweiser anbringt. Die Grundlage des scheinbaren Paradoxons Armut in einer Überflussgesellschaft besteht in folgendem: Armut existiert nicht, es gibt nur Arme. Das heißt, anders ausgedrückt: Menschen, die für ihre Armut verantwortlich sind.

Das Elend ist keine strukturelle Konsequenz der gesellschaftlichen Organisation und ihrer Eigentumsverhältnisse, sondern liegt jeweils in der Person des Elenden selbst begründet. Es gab einmal eine Zeit, da erblickte man im Pauperismus eine objektive und notwendige Konsequenz des kapitalistischen Gesellschaftssystems. Selbst bürgerliche Reformer hatten sich diesen Gedanken zu eigen gemacht.

Nicht der Armut den Krieg erklären, sondern den Armen?

Spätestens unter dem Neoliberalismus setzte sich der oben skizzierte neue und gleichzeitig uralte Interpretationscode der Armut und "abweichenden Verhaltens" durch. Die Folge war die fatale Programmatik, die sich auch in der Sozialdemokratie durchsetzte: Nicht der Armut den Krieg zu erklären, sondern den Armen.

In der aktuellen Debatte über das "Bürgergeld" ist auf Seiten der CDU noch immer die Annahme dominant: Armut wird durch Faulheit, Maßlosigkeit und andere Laster hervorgerufen. Und: moralischen Ursachen ist moralischen Waffen zu begegnen. Soziale Hilfe muss also äußerst restriktiv und kontrollierend verabreicht werden, sonst fördert sie das Übel, das sie abschaffen möchte.

Auf der reformerischen Gegenseite wurde bei Anne Will von einer engagierten Sozialarbeiterin der Vorschlag präsentiert: Die Armen und Langzeitarbeitslosen sollten einen Coach zur Seite gestellt bekommen, der ihnen bei der Suche nach ihren Defiziten und deren Behebung behilflich ist.

Auch solche gut gemeinte Vorschläge bleiben dem Paradigma verhaftet, dass die Ursachen der Armut in der Person des Armen zu suchen und zu beheben sind.

Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete als Gefängnispsychologe und ist Autor zahlreicher Bücher. Eisenbergs Durchhalteprosa erscheint regelmäßig bei der GEW Ansbach.

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