Kann Europa diesen Moment überleben?

Ohne starke Demokratie wird Europa weiter in Richtung eines neuen Krieges und seiner eigenen Zerstörung schlafwandeln. Warum wir mehr 1815 brauchen und weniger 1919. Ein Essay.

Ein neues, altes Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Krieges. Der gewalttätigste Kontinent der Welt, gemessen an der Zahl der Kriegstoten in den letzten 100 Jahren – nicht zu vergessen die Opfer, die Europa in den Religionskriegen zu beklagen hatte, und die Toten, die Europäer den kolonisierten Völkern zugefügt haben – steuert auf einen neuen Krieg zu.

Fast 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, dem bisher gewalttätigsten Konflikt, der zwischen 70 und 85 Millionen Menschen das Leben kostete, könnte der kommende Krieg noch blutiger werden. Alle bisherigen Konflikte begannen scheinbar ohne triftigen Grund und waren nur von kurzer Dauer.

Zu Beginn dieser Konflikte führte die Mehrheit der wohlhabenden Bevölkerung ihr normales Leben weiter – sie gingen einkaufen, ins Theater, lasen Zeitungen, fuhren in den Urlaub und unterhielten sich müßig über Politik.

Wann immer ein lokal begrenzter gewaltsamer Konflikt auftrat, herrschte die Überzeugung vor, dass er auch lokal gelöst würde. Zum Beispiel dachten nur wenige Menschen (einschließlich Politiker), dass der Spanische Bürgerkrieg (1936-1939), der mehr als 500.000 Menschen das Leben kostete, einer der Vorboten eines größeren Krieges - des Zweiten Weltkrieges - sein würde, obwohl die Bedingungen vor Ort darauf hindeuteten.

Und obgleich wir wissen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, ist die Frage berechtigt, ob der gegenwärtige Krieg zwischen Russland und der Ukraine nicht der Vorbote eines neuen, viel größeren Krieges ist.

Es mehren sich die Anzeichen, dass sich eine größere Gefahr am Horizont abzeichnet. Auf der Ebene der öffentlichen Meinung und des vorherrschenden politischen Diskurses zeigt sich diese Gefahr in zwei gegensätzlichen Symptomen.

Einerseits kontrollieren einige konservativen politischen Kräfte nicht nur die ideologischen Initiativen, sondern genießen auch eine privilegierte Rezeption in den Medien. Sie sind polarisierende Feinde der Komplexität und der ruhigen Argumentation, die sich einer äußerst aggressiven Sprache bedienen und zum Hass aufstacheln.

Diese konservativen politischen Kräfte stören sich weder an der Doppelmoral, mit der sie Konflikte und Tote kommentieren – zum Beispiel zwischen den Opfern der Konflikte in der Ukraine und in Palästina – noch an der Doppelzüngigkeit, mit der sie sich auf Werte berufen, die sie in der Praxis verleugnen.

In diesem konservativen Meinungsstrom vermischen sich zunehmend rechte und rechtsextreme Positionen, wobei die größte Dynamik, die tolerierte Aggressivität, von Letzteren ausgeht. Die Idee, dass ein Feind eliminiert werden muss, wird propagiert. Doch Vernichtung durch Worte ist stets geeignet, die öffentliche Meinung auf die Beseitigung durch Taten vorzubereiten.

Obwohl es in einer Demokratie keine inneren Feinde, sondern nur politische Gegner gibt, bricht sich so schleichend die Logik des Krieges Bahn. Man geht von inneren Feinden aus, deren Stimmen erst zum Schweigen gebracht werden müssen.

In den Parlamenten dominieren die konservativen Kräfte die politische Initiative, während sich die linken Kräfte, verwirrt oder verloren in ideologischen Labyrinthen oder unverständlichen Wahlkampfmanövern, auf ebenso lähmende wie unverständliche Verteidigungslinien zurückziehen. Wie in den Dreißigerjahren wird der Faschismus im Namen der Demokratie, der Krieg im Namen des Friedens gerechtfertigt.

Dieser politisch-ideologischen Atmosphäre steht jedoch ein gegenläufiges Phänomen gegenüber. Die aufmerksamsten Beobachter und Kommentatoren sind sich des Geistes bewusst, der in Europa umgeht, und haben sich in ihren Äußerungen zu diesem Thema erstaunlich angenähert. In letzter Zeit habe ich mich in den Analysen von Kommentatoren wiedergefunden, die ich immer als Angehörige eines anderen politischen Lagers betrachtet habe: ebenso konservative, gemäßigt-rechte Kommentatoren.

Was wir gemeinsam haben, ist die Unterscheidung zwischen der Frage von Krieg und Frieden und der Frage der Demokratie. In der ersten Frage mögen wir unterschiedlicher Meinung sein, in der zweiten stimmen wir überein. Wir sind uns einig, dass nur die Stärkung der Demokratie in Europa den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eindämmen und im Idealfall friedlich lösen kann. Ohne eine starke Demokratie wird Europa weiterhin schlafwandelnd auf einen neuen Krieg und seine eigene Zerstörung zusteuern.

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