Kann Europa diesen Moment überleben?

Seite 2: Kann die Katastrophe noch abgewendet werden?

Kann die Katastrophe noch abgewendet werden? Ich würde dies gerne bejahen, aber ich kann es nicht. Denn die Zeichen sind beunruhigend.

Erstens erstarkt die extreme Rechte weltweit, getrieben und finanziert von denselben Interessengruppen, die sich in Davos treffen, um ihren Geschäften nachzugehen.

In den 1930er-Jahren hatten diese Akteure viel mehr Angst vor dem Kommunismus als vor dem Faschismus; heute, ohne die kommunistische Bedrohung, haben sie Angst vor der Revolte der verarmten Massen und schlagen als einzige Antwort gewaltsame polizeiliche und militärische Repression vor. Ihre parlamentarische Stimme ist die der extremen Rechten.

Der innere Krieg und der äußere Krieg – das sind die beiden Gesichter desselben Ungeheuers. Und die Rüstungsindustrie profitiert von beiden Kriegen gleichermaßen.

Zweitens scheint der Krieg in der Ukraine begrenzter zu sein, als er tatsächlich ist. Die gegenwärtige Geißelung des Kontinents, auf dem vor 80 Jahren so viele Tausende unschuldiger Menschen (die meisten von ihnen Juden) starben, gleicht einer Selbstgeißelung.

Russland ist bis zum Ural so europäisch wie die Ukraine, und mit diesem illegalen Krieg zerstört Russland neben dem Verlust unschuldiger Menschenleben, von denen viele russischsprachig sein werden, die Infrastruktur, die es selbst in der ehemaligen Sowjetunion mit aufgebaut hat.

Die Geschichte und die ethnisch-kulturellen Identitäten zwischen Russland und der Ukraine sind viel stärker miteinander verwoben als mit anderen Ländern, die die Ukraine einst besetzt hatten und sie jetzt unterstützen.

Sowohl die Ukraine als auch Russland müssen ihren demokratischen Prozessen mehr Bedeutung beimessen, um den Krieg zu beenden und den Frieden zu sichern.

Europa ist viel größer als die Augen Brüssels erfassen können. Im Hauptquartier der Europäischen Kommission – oder im Nato-Hauptquartier, was im Grunde dasselbe ist – herrscht die Friedenslogik des Versailler Vertrags von 1919 und nicht die des Wiener Kongresses von 1815.

Ersterer demütigte die besiegte Macht (Deutschland) nach dem Ersten Weltkrieg, und diese Demütigung führte 20 Jahre später zu einem neuen Krieg; letzterer ehrte die besiegte Macht (das napoleonische Frankreich) und garantierte ein Jahrhundert Frieden in Europa.

Der Frieden, der heute vorgeschlagen wird, ist der Frieden von Versailles. Er setzt die totale Niederlage Russlands voraus, wie Adolf Hitler sie sich vorstellte, als er 1941 die Sowjetunion überfiel.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass dies auf der Ebene eines konventionellen Krieges geschieht, lässt sich leicht vorhersagen, dass die unterlegene Macht, wenn sie über Atomwaffen verfügt, nicht zögern wird, diese auch einzusetzen. Es würde dann zum nuklearen Holocaust kommen.

Die US-amerikanischen Neokonservativen haben diese Möglichkeit bereits in ihr Kalkül einbezogen, weil sie in ihrer Verblendung davon überzeugt sind, dass dies Tausende von Kilometern von ihren Grenzen entfernt geschehen wird.

Amerika zuerst – und zuletzt. Es ist gut möglich, dass sie bereits über einen neuen Marshall-Plan nachdenken, diesmal für die Lagerung des Atommülls, der sich in den Ruinen Europas angesammelt hat.

Ohne Russland ist Europa wirtschaftlich und kulturell nur ein halbes Europa. Die größte Illusion, die den Europäern durch den Informationskrieg des letzten Jahres eingebläut wurde, ist die, dass Europa, nachdem es von Russland abgeschnitten wurde, mit Hilfe der USA, die seine Interessen vertreten, seine Integrität wiederherstellen kann.

Die Geschichte zeigt jedoch, dass ein untergehendes Imperium immer versuchen wird, seine Einflusszonen mit sich zu reißen, um seinen Niedergang zu verlangsamen. Wenn Europa nur wüsste, wie es seine eigenen Interessen verteidigen kann.

Boaventura de Sousa Santos ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität von Coimbra in Portugal. Sein jüngstes Buch trägt des Titel "Decolonizing the University: The Challenge of Deep Cognitive Justice". Dieser Artikel wurde erscheint in Zusammenarbeit mit dem Portal globetrotter.media

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