Kann man auch an eine Politik glauben, statt an einen Gott?
Ja, natürlich, kann man. - Aber - ist das dann eigentlich auch eine Religion?
Kann eine Politik Religion sein?
Ja, eine Politik bzw. ein politisches Konzept oder eine politische Richtung kann auch Religion sein. So sieht es jedenfalls der russische Philosophieprofessor Michail Ryklin. Er schrieb ein Buch darüber: Kommunismus als Religion.
Darin beschreibt und erklärt er die Faszination des Kommunismus für die westliche "Intelligenzija", etwa Walter Benjamin, André Gide, Lion Feuchtwanger, Bert Brecht, und andere. Zwar sei die Partei, die in Russland mit dem Oktoberumsturz an die Macht kam, eine "Partei von Atheisten" gewesen1 und der Atheist Lenin habe "den Glauben an Gott für unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der revolutionären Partei"2 und jeden Nicht-Materialisten für einen potenziellen Feind gehalten.3Aber jenseits des Theismus, so Lenin, habe es auch keine Religion gegeben.4
Also: Braucht man für Religion einen Gott? Oder nicht - und wenn nicht: Was ist denn dann Glaube?
Es fehlt in der Tat eine wissenschaftlich allgemein anerkannte Definition des Begriffs "Religion". Auch Theologen und Religionsphilosophen waren uneins: Schleiermacher etwa sprach von einer religiösen Anlage des Menschen, Barth dagegen nahm an, dass die christliche Botschaft radikal anders sei und von außen kommen müsse (Kunik). Schleiermacher und Barth darf man getrost als christliche Gläubige bezeichnen - vielleicht erfuhren sie ihren Glauben unterschiedlich, vielleicht interpretierten sie ihn unterschiedlich, vielleicht war es auch eine theoretische, systematisch-theologische Unterscheidung.
Diesen Widerspruch zwischen Offenbarung von Außen und innerer Anlage, zwischen göttlich und kontextabhängig, findet Ryklin in der Konzeption von Kommunismus als Religion: Gershom Scholem etwa habe Religion theistisch verstanden. Darin stimmte er mit Lenin überein. Dagegen habe Walter Benjamin Religion nicht notwendigerweise, sondern "nur" historisch bedingt und kontextabhängig mit einem personifizierten Transzendenten verbunden gesehen.5
Insofern kann man natürlich auch Kommunismus als Religion betrachten. Das tut Ryklin. Religion ist seiner Ansicht nach nicht theistisch, sondern historisch. Mit diesem Konzept kann er Religion von ihrer Wirkung auf Mensch und Gesellschaft her definieren. Zugespitzt formuliert: Woran man glauben kann, das ist Religion. Indem er Kommunismus so als Religion definieren kann, widerspricht er Lenin. Müsste Lenin sich als Atheist angesichts des Verständnisses von Kommunismus als Religion im Grabe herumdrehen? Oder würde er sich mit seinem theistischen Religionsverständnis von dieser impliziten Kritik vielleicht gar nicht getroffen fühlen?
Ryklin sieht den Kommunismus als Religion anders als ein Glaubender oder auch Nicht-Glaubender "seine" Religion sieht. Er schreibt seine Schlüsselsätze dazu am Schluss: Da geht er auf den Coen-Brüder-Film Barton Fink ein: Ein junger und naiver Autor hat seinen ersten Erfolg mit einem Stück über - und für - die "kleinen Leute". Nun soll er für Hollywood auch so etwas schreiben. Er geht den Produzenten und einem Serienmörder auf den Leim, hat erst eine Schreibhemmung und schafft es dann doch, ein Stück zu schreiben. Aber letztlich wird nichts veröffentlicht - und ein Serienmörder (der wahrscheinlich Finks Familie ermordet hat) nennt ihn Tourist mit einer Schreibmaschine, der nicht zuhöre, während er, der Serienmörder, hier leben müsse, aber seine Opfer von ihren Leiden befreie.
Ryklin schreibt dazu: "Ich kenne keine gnadenlosere Satire auf die revolutionären Bestrebungen der westlichen Intelligenzija als diesen Film. Sein Protagonist ist rührend, aber alles deutet darauf hin, dass seine Umgebung ihm zutiefst fremd, dass er darin ohne Orientierung ist und sich über die, für die er schreibt, täuscht."6 - Ryklin ist der Ansicht, dass die westlichen Intellektuellen - die vom Kommunismus so sehr fasziniert sind, dass sie selber revolutionäre Bestrebungen entwickeln - sich täuschen lassen, dass sie naiv sind.
Dieser Vorwurf könnte, salopp gesagt, einen Fundamentalisten nicht treffen. Die drei großen monotheistischen Religionen - Judentum, Christentum und Islam - sind Offenbarungsreligionen: Die Gläubigen sind sicher, dass ihre Religion offenbart wurde - und zwar von ihrem Gott. Und ein Fundamentalist ist sicher: Die Religion wurde genau so geoffenbart, wie er sie glaubt. Dies Konzept ist streng theistisch.
Man kann natürlich sagen, dass gerade dies naiv sei - aber das trifft es nicht. Naiv wäre, wer unwissend und unkritisch ist, wer die Möglichkeit zur Auswahl einer Religion hätte. Ein Fundamentalist dagegen denkt durchaus (zumindest steht Fundamentalismus nicht im Widerspruch zum Denken). Aber er sucht sich dass (und was) er glaubt nicht aus - zumindest nicht vorsätzlich-bewusst. Aus der Tatsache etwa, dass es einander ausschließende Glaubenssätze gibt; aus der Tatsache, dass die Religionen einander ausschließen, kann man nicht zwingend folgern, dass keine der Religionen "wahr" ist. Formal logisch könnte eine von ihnen durchaus wahr sein.
Anders herum: Politik ist Religion, aber der Glaubende weiß es nicht
Zum Wesen des Fundamentalismus gibt es unterschiedliche Ideen. Eine patriarchalische Protestbewegung? - Dies ist verbreitet, weil überzeugend. Und damit kann man interessanterweise zum Schluss kommen, dass auch theistische Religionskonzepte politisch sind. Oder, wenn man es von außen betrachtet: Dass ein theistisches Religionskonzept eigentlich eine Politik meint.
So ähnlich sieht die Theologin und Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong den Fundamentalismus: als radikalisierte und kampfbereite Form der Religiosität. In ihrem Buch Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam kommt sie zum Schluss, dass Fundamentalismus die Vorherrschaft westlicher und säkularer Werte in Frage stelle und damit eine sehr "moderne" Bewegung sei.
Damit benennt sie den Fundamentalisten auf dieselbe Art wie Ryklin den Kommunisten kritisiert (nur gleichsam umgekehrt): Ryklin sagt, dass der Kommunist deswegen Kommunist ist, weil er die Welt verbessern will. Armstrong sagt, dass der Fundamentalist deswegen Fundamentalist ist, weil er sich gegen die Moderne und den Säkularismus "zur Wehr setzt". So gesehen gehen Kommunisten und Fundamentalisten beide einen religiösen Weg zu einer Politik.
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