Kannibalismus als Zivilisationsphänomen
Der "Kannibale von Rotenburg" strapaziert nicht nur die Fantasie, sondern auch die juristische Fallbewertung
Kannibalismus ist eine sehr elementare Form der Einverleibung. Fortgeschrittene Zivilisationen bescheiden sich inzwischen vornehmlich auf Metaphern, wenn es darum geht, jemanden zum Fressen gern zu haben. Das christliche Abendmahl und seine eindeutigen Aussagen wurden theologisch so weit entschärft, dass das Fleisch Christi sich in eine geschmacklose Oblate verwandelte, die nur noch einen transzendenten Vorgang symbolisiert.
Die Angst vor fremden Kochtöpfen
Wenn die zivilisierte Welt sich vormals selbst humanen Fortschritt bescheinigte, geschah das oft in der Abgrenzung zu Wilden, deren Unmenschlichkeit sich paradigmatisch in der Menschenfresserei belegte. Dabei ging es häufig nicht um ethnologisch gesicherte Befunde von Anthropophagie als um selbstgefällige Projektionen, jenen Fremden hinter den sieben Meeren alles Üble zuzutrauen.
Ethnologen streiten heute sogar über die Frage, ob es abgesehen von Notkannibalismus etc. überhaupt je Kannibalismus gegeben hat. Michel de Montaigne ließ die europäische Selbstaufklärung über die eigenen perfekten Sitten und jene Abartigkeit der widernatürlichen Naturmenschen ohnehin nicht gelten. Wenn es um Leiden, Qualen, Inhumanitäten aller Art geht, stehe der Kulturmensch nicht hinter seinem unaufgeklärten Brüdern in den dunklen Gegenden der Erde zurück. Es ist barbarischer, meinte Montaigne, "sich an den Todesqualen eines lebendigen Menschen zu weiden, als ihn tot zu fressen." Die christliche Folterbank erschien ihm schlimmer als der kannibalische Kochtopf. Nach Vernunftregeln mögen Menschenfresser Barbaren sein, im Kulturvergleich seien wir dagegen die wirklichen Barbaren.
Die Jahrhunderte, die auf Montaigne folgten, scheinen diese Richtigstellung eher zu erhärten als zu relativieren. Die zivilisatorische Abscheu vor Kannibalismus lässt ohnehin vermuten, dass nicht nur der vorgeblich so humane Fortschritt des Zivilisationsprozesses dafür verantwortlich ist, sondern mindestens ebenso die Abwehr unbewusster Fantasien, die längst nicht spurenlos ausgetrieben sind. Dass das Faszinosum "Kannibalismus" noch nicht gegessen ist, lässt seine Präsenz in den Geschichten von Dr. Hannibal Lecter, unzähligen Vampir- und Alien-Fantasien bis hin zu den grassierenden Witzen und Kalauern über die kannibalischen Küchen Afrikas vermuten.
Juristische Grauzonen
Armin M., der "Kannibale von Rotenburg", beließ es jedenfalls nicht bei den Fantasien, die ihn seit seiner Kindheit immer stärker beherrschten. Er fand seinen Widerpart in dem Berliner Diplom-Ingenieur Bernd Jürgen B. und die beiden wurden handelseinig. Das Opfer wollte gefressen werden und der Kannibale fraß ihn vereinbarungsgemäß.
Dieser beispiellose Deal ist nun Gegenstand eines Strafverfahrens vor dem Landgericht Kassel, das zunächst klar macht, dass sich dieser Tatbestand gar nicht hätte ereignen dürfen. Denn Kannibalismus per se ist nicht strafbar. So stellt sich die Frage, ob es nun Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) oder gar Mord (§ 211 StGB) war. Doch alles das trifft es nicht präzise und so muss sich jetzt die Kunst der juristischen Auslegung bewähren, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Nach den bisherigen Erkenntnissen wollte das Opfer die Tat, ja spornte den Täter noch bis zuletzt dazu an. Tötung auf Verlangen setzt voraus, dass jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt wird. Das wirft das Problem auf, inwieweit der Wille des Opfers diese Voraussetzungen erfüllt, denn Geisteskrankheit oder fehlende Verstandesreife werden etwa von der Rechtsprechung nicht akzeptiert.
Sehr wahrscheinlich ist, dass Armin M. wegen Totschlags verurteilt wird. Denn dieser Vorwurf wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Opfer selbst in die Tat einwilligte, weil das Rechtsgut "Leben" nicht disponibel ist. Anderenfalls würde die Strafrechtsnorm "Tötung auf Verlangen" als eigener Tatbestand keinen Sinn machen.
Oder aber war es noch weiter gehend ein Mord zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, wie es die Staatsanwaltschaft ihrer Anklage zu Grunde legte? Von sexuellen Motiven will der Täter dagegen nichts wissen:
Sex macht man mit einem Partner im Bett, nicht mit einem Stück Fleisch. Das hat mit sexueller Erregung überhaupt nichts zu tun.
Das könnte ihm sein Verteidiger eingeflüstert haben. Doch immerhin zeigt das selbst gedrehte Video zur Tat, wie der Kannibale vor der Tötung und Zerlegung seines Opfer dieses "entmannt" hat. Die sexuelle Konnotation ist nicht zu übersehen und manche sexuellen Gelüste mögen kalt bis unbewusst genossen werden. Eine weitere Finte der Verteidigung könnte auch des Kannibalen Tatauslegung sein, dass er nur "Beihilfe zum Selbstmord" leisten wollte. Doch bei Bewusstlosigkeit des Opfers - wie im vorliegenden Fall - verwandelt sich dann diese "Beihilfe" in eine Tötung durch Unterlassen, weil der Täter keine Hilfe mehr leistet.
Kannibalistischer Idealismus
Der Menschenfresser stellt sein Abendmahl als einen idealisierten Akt dar, bei dem es ihm um die weitreichendste Form der Inbesitznahme eines Freundes ging. Die Tatmotivation begründet der Kannibale so regressiv-ritualisch wie moralisch hochwertig. Die Person des Getöteten habe er achten und ehren wollen:
Ich empfinde durch dieses Schlachten, dass der Körper nicht einfach weggeworfen wird, sondern noch einen Sinn hat.
Und mit dieser bizarren Sinnsuche ist er nicht allzu weit von den psychiatrischen Deutungen des Kannibalismus entfernt. Der Theorie zufolge besteht das Wesen dieser Abweichung nämlich gerade darin, mit einem anderen Objekt verschmelzen zu wollen. Brian Masters deutete in seiner detaillierten Fallschilderung das Motiv des Serienkillers Jeffrey Dahmer, der zum Lieblingsungeheuer der Medien wurde, ähnlich:
Ich glaube noch immer, dass es sein primäres Ziel war, ein begehrtes Objekt zu erschaffen, nicht, es zu zerstören, die Zerstörung war seine Art etwas von dem Körper zu erhalten, dessen Gesellschaft und Trost er gesucht hatte.
Regelmäßig kommt es bei diesem raren Tätertypus zu einem mehrjährigen Fantasieverlauf von autokannibalischen Vorstellungen, die sich irgendwann in die Obsession verwandeln, einen anderen Menschen zu verzehren.
Doch das konkrete Geschehen im blutigen Rotenburg blieb offensichtlich hinter der Fantasie zurück. Das Opfer drängte angeblich auf eine Schlachtung unter Qualen und legte auch keinen Wert darauf, dem Wunsch des Täters zu entsprechen, ihn näher kennen zu lernen. Zudem beklagte der Kannibale: Das Opfer habe ihn belogen, es sei 43 und nicht - wie angegeben - 36 Jahre alt gewesen.
Schaurig war die Tat, mindestens ebenso aber grotesk. Anders kann man auch den lakonischen Kommentar des Menschenfressers kaum auffassen, dass nach 20-kg-Fleischverzehr während einiger Mahlzeiten sein Vorrat schon leider alle war und er sich wieder genötigt sah, im Internet nach neuen Opfern Ausschau zu halten.
Alltäglicher Kannibalismus
Der Täter hat nun begonnen, im Gefängnis seine bestsellerverdächtigen Memoiren zu schreiben, die weitere Aufschlüsse darüber enthalten mögen, wie eine Psyche in solche Abgründe zwischen Moral- und Geschmacksfragen getrieben wird. Wenn auch die Vereinbarung mit dem Opfer ein Novum in der Geschichte der Menschenverspeisung darstellen dürfte, relativiert sich die angebliche Einzigartigkeit des vorliegenden Falles zumindest im Blick auf die Bluttat selbst. Denn diese dunkle Seitenlinie der Zivilisation ist auch in jüngerer Zeit nicht arm an Beispielen für bestialische Ritualmorde und nekrophile Exzesse, die geradezu stereotype, immer wiederkehrende Verhaltensmuster aufweisen. Bis hin zur Objektivierung, d.h. Unterwerfung und Kontrolle der Opfer, durch Videos und Fotografien handelt es sich um einen Macht- und Herrschaftsgestus, der mit dem Leben nicht fertig wird und es daher verschlingt.
Erich Fromm sprach übergreifend vom "nekrophilen Charakter", der die Dinge über die Menschen stellt. Sozialadäquat gelten uns die harmlosen Bezeugungen dieses Charakters, wenn etwa einer seine Statussymbole - "mein Haus, mein Auto, meine Yacht" - für liebenswerter hält als die Menschen, mit denen er zusammenlebt. So hat sich auch der Täter von Rotenburg in das Paradox verstrickt, vom "Sinn des Opfers" zu reden, das zugleich aber nun ein "Stück Fleisch" für ihn ist.
Klassischer Kannibalismus ist eine Herrschaftsform, mit der unsere Zivilisation nicht mehr viel anfangen kann, weil sie vom Beherrschten zu wenig übrig lässt. Unser zivilisierter Kannibalismus wäre wohl eher als eine Form der leidlich sozialverträglichen Ausbeutung von Menschen in privaten und öffentlichen Beziehungen zu verstehen. Der regressive Glaube, sich die Kräfte, Fähigkeiten und Eigenschaften eines Menschen mit dessen Einverleibung anzueignen, ist in unseren Zeiten durch Fantasien ersetzt worden. Unmittelbare Einswerdung mit dem Anderen wird heute vorzugsweise durch identitätshungrige Starkulte und andere Formen des kommerziellen Fetischismus besorgt.
Schließlich mag man den Kannibalismus als nicht gänzlich ausgestorbenes Zivilisationsphänomen mit Wilhelm Busch generalisieren:
Wahre menschliche Kultur gibt es erst, wenn nicht nur die Menschenfresserei, sondern jeder Fleischgenuss als Kannibalismus gilt!
Busch quittierte diese Erkenntnis einer barbarischen "Kulturgeschichte", die bis auf weiteres unser alltäglicher Standard bleibt, ironisch bis zynisch mit der Bildergeschichte "Max und Moritz": Die Bösewichter werden in bekömmliche Portionen zerstückelt an die Gänse verfüttert und damit steht die kannibalistische Logik von Fressen und Gefressenwerden wenigstens für einen fiktionalen Moment lang auf dem Kopf.