Kanzleramtschef: Kein Lockdown (für Geimpfte) in der vierten Welle

Foto: Eric Christian Capilador/Pexels

Laut Umfragen haben Deutsche zunehmend Angst vor Delta-Herbst. Vorläufigen Erkenntnissen zufolge hat die Variante in Israel und England bisher zu keinem signifikanten Anstieg der Hospitalisierungen geführt

Manchmal hat man den Eindruck, dass im ARD-Deutschland-Trend die neuralgischen Fragen ausgelassen werden. So fehlt im aktuellen Stimmungsbild, das sich mit den Sorgen der Deutschen vor einem Corona-Herbst beschäftigt, die Frage danach, wie es um die Bereitschaft in der Bevölkerung steht, sich impfen zu lassen.

Die Sorge einer Impfmüdigkeit, dass die Bevölkerung nicht schnell genug durchgeimpft wird, ist in der Regierung spürbar. Herauszulesen ist sie zum Beispiel an den Äußerungen des Kanzleramtschefs Helge Braun. "Wer geimpft ist, kann sich auch im Herbst, selbst in einer vierten Welle, Hoffnung auf Normalität machen", teilte er dem MDR mit.

Einen Lockdown für Geimpfte werde es nicht geben, verspricht Braun demnach. "Vorausgesetzt die Impfungen wirkten", wie der Bericht hinzufügt.

Das Robert Koch-Institut hat gesagt: "Bei den derzeitigen Viren, die wir kennen, nehmen Leute, die den vollständigen Impfschutz haben, am epidemiologischen Geschehen nicht mehr wesentlich teil. Wenn sich irgendwo Geimpfte aufhalten, sind sie selber nicht mehr wirklich gefährdet und sie gefährden auch keine anderen. Und da gibt es auch keinen Grund, zu einer Reduzierung ihrer Kontakte zu raten.

Kanzleramtsminister Helge Braun

Braun stellte in Aussicht, dass künftig "nicht mehr nur auf die Inzidenzen" geschaut werde, sondern dass man "auch auf die Hospitalisierungsrate" achte.

Zwischenergebnisse aus Großbritannien und Israel

Die Zwischenergebnisse zum Verlauf der Delta-Variante aus Großbritannien und Israel bestätigen bislang die Ansicht, dass sich diese Variante rasch ausbreitet und in großem Tempo die anderen Varianten verdrängt, aber bisher hat sie weder in Großbritannien noch in Israel einen alarmierenden Anstieg der Hospitalisierungen ausgelöst.

Normalerweise dauere es eine Woche bis zehn Tage, bis der Effekt in den Krankenhäusern zu spüren sei, daher müssen die Patientenzahlen jetzt steigen, berichtet die Times of Israel und stellt fest: "Das tun sie aber nicht.".

Am gestrigen Donnerstag waren 54 Personen in Israel registriert, die mit dem Coronavirus im Krankenhaus waren. Das seien zwei mehr als in der Woche zuvor, so die Zeitung. Die Anzahl der Patienten an Beatmungsgeräten habe sich nicht verändert. Sie betrage wie in der Woche zuvor 18.

"Vorläufige Erkenntnisse" aus England und Schottland würden darauf hindeuten, dass Menschen, die mit Delta infiziert sind, "etwa doppelt so häufig im Krankenhaus landen wie solche, die mit Alpha infiziert sind", warnte ein Artikel des Wissenschaftsmagazin Nature am 22. Juni.

Nicht ganz zehn Tage später geben Daten der britischen Regierung zur Coronavirus-Lage noch keine Auskunft darüber, ob dem tatsächlich so ist. 259 Neueinweisungen von Corona-Patienten in den Krankenhäusern weist die britische Regierung für den 27. Juni aus - insgesamt zählt man in den letzten sieben Tagen 1.735 Hospitalisierungen.

Das entspreche einer Steigerung von 11,4 Prozent gegenüber der Woche vom 14. bis 20. Juni. Die Kurve zu den Krankenhaus-Daten bleibt flach.

Zum Kontext: Im Zeitraum vom 1. Februar bis 22. Juni zählte man laut der Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) 92.029 (Table 4) bestätigte Infektionen mit der Delta-Variante B.1.617.2. Die Allermeisten wurden im Juni identifiziert ("in den letzten 28 Tagen: 79.336"). Es zeigte sich, dass die Impfung eine Rolle spielt. Von den mit der Delta-Variante Infizierten waren 58 Prozent völlig ungeimpfte Personen und acht Prozent waren vollständig geimpft.

In Großbritannien sind laut Regierungsdaten 85,2 Prozent der Bevölkerung erstgeimpft; 62,7 Prozent haben eine zweite Impfung hinter sich. Der Anteil der Corona-Variante B.1.617.2 betrage annähernd 95 Prozent der sequenzierten und 92 Prozent der genotypisierten Fälle vom 7. bis 21. Juni, so das PHE in seinem Bericht vom 25. Juni.

Minister würden planen, am 19. Juli alle vorgeschriebenen Masken- und Sozialdistanzierungs-Regulierungen in England aufzuheben, berichtete der Guardian gestern, mit der Einschränkung, dass in "Hochrisikobereichen wie z. B. in öffentlichen Verkehrsmitteln" weiterhin Regelungen gelten würden.

Deutschland: Rückkehr zur Normalität?

In Deutschland ist Helge Braun nicht der Einzige, der in Aussicht stellt, dass es im Herbst keinen Lockdown mehr gebe. Auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow pochte in einem Interview darauf, dass "wir zurückkehren können zu einer Normalität" - dank der Impfungen:

Auch unter dem Risiko, das mit Delta verbunden ist, eben weil wir ein gutes Tempo beim Impfen haben. Wenn wir da eine Quote von 70 Prozent erreichen, sind wir so resilient, dass wir keinen flächendeckenden Lockdown mehr brauchen werden.

Bodo Ramelow

Ramelow ärgert sich im Gespräch in der Welt dezent über Angstmacher und spricht sich im Fall ansteigender Zahlen für lokal begrenzte Maßnahmen aufgrund besserer Frühwarnmechanismen aus. So sollen Abwassermessungen zurate gezogen werden.

Dass Inzidenzwerte, die bei der Bundesnotbremse noch gesetzliches Schlüssel-Maß waren, keine gute Grundlage für Entscheidungen großer Tragweite sind, schwant nun mehreren Politikern. So fordert auch die nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer einen neuen Maßstab für die Bewertung der Corona-Infektionszahlen, der Inzidenzwert könne es nicht mehr sein, "weil immer mehr Menschen geimpft sind".

Das heißt aber nicht unbedingt, dass der Schulministerin nun die Herzen der von Maßnahmen Geplagten zufliegen. Gebauer sprach sich zum Ferienbeginn in NRW dafür aus, dass die Maske im Unterricht bleibt..

Geht es nach den Umfrageergebnissen des aktuellen ARD-Deutschlandtrends, so ist genau diese Maßnahme bei der ganz großen Mehrheit der Eltern wie auch bei der Bevölkerung unten durch: "Die einzige Maßnahme, die nur wenig Unterstützung erfährt: die Maskenpflicht im Unterricht. Nur 27 Prozent der Eltern bzw. 37 Prozent der Gesamtbevölkerung sprechen sich dafür aus."

Laut Bundesbildungsministerin Anja Karliczek kann es "je nach Pandemielage erforderlich sein, in den Schulen Masken zu tragen".