Karfreitag der Kirche

Seite 3: Schläge mit dem Brautring Christi: "Die Erde ist schön …"

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Einer meiner Freunde ist eine Generation nach Paul Brune in einem Kinderheim aufgewachsen, das auch von einer kurz vor dem I. Vatikanum gegründeten Frauenkongregation geleitet wurde. Die Bemühungen der 68er-Generation um Befreiung der Kinder aus antiquierten Erziehungsanstalten kamen ihm erst sehr spät durch die Anstellung weltlich ausgebildeter Sozialpädagogen zugute. Mein Freund sagt nicht, die Nonnen wären in einen Orden gegangen, um ihm das Leben schwer zu machen. Er sagt vielmehr aus heutiger Sicht, dass sie völlig überfordert waren.

In Kinderzeiten war seine maßgebliche Betreuerin nur die Ordensfrau G. Sie kam aus einer stramm katholischen Bauernfamilie in Westfalen und hatte noch nicht die Möglichkeit, bei einem Therapeuten wie Eugen Drewermann Hilfe zu suchen. Ihr Essverhalten war auffällig, ein reichhaltiger Bier- und Weingenuss kam hinzu.

Den Kindern erzählte die Nonne, sie sei mit Jesus verheiratet und trage deshalb einen Ehering. In Erinnerung hat mein Freund diesen Ring, weil er bei körperlicher Züchtigung die Schmerzen vervielfachte. Die Schwester hatte nicht gelernt, wie Menschen offen miteinander sprechen statt Gewalt anzuwenden. Am Sonntag wurde gesungen: "Die Erde ist schön, es liebt sie der Herr: Neu ist der Mensch, der liebt wie er …"

Sexualisierte Gewalt ging von älteren Zöglingen aus, doch sie wurde von den Nonnen offenbar nicht erkannt. Ein Täter blieb der immerwährende Musterknabe des Hauses. Vier enge "Heim-Brüder" meines Freundes haben wegen Drogenkonsum und Suiziden nur ein kurzes Leben gehabt. Die Einrichtung war ganz durchschnittlich und ist nie Gegenstand eines öffentlichen Skandals geworden. Vor einiger Zeit begegnete mein Freund eine Novizin des Klosters aus seiner Kinderzeit. Sie ist aus dem Orden ausgetreten und lebt heute mit einer Partnerin zusammen.

Ein pädosexueller Rektor predigt gegen Eugen Drewermann

In der Zeit des Theologiestudiums habe ich an meinem Heimatort werktags oft einem pensionierten Priester, der aus dem Bistum Essen zugezogen war, zur Messe ministriert. Dieser "Rektor" hatte einen "gehobenen Lebensstil" und war bekannt für seine Kritik des bei Visiten dargereichten Gebäcks. Die katholische Publizistin im Dorf monierte seinen albernen Umgang mit Kindern im Schwimmbad am Ort. Erst viel später habe ich erfahren, dass er regelmäßig mit Kindern u.a. auch in weit auswärts gelegene Schwimmbäder gefahren ist. Alle Eltern waren ahnungslos …

Wir ehrenamtlich tätigen "Nicht-Kleriker" in der Gemeinde waren in den 1980er Jahren vollständig uninformiert bezogen auf den Rektor und auch vollständig ignorant hinsichtlich des Komplexes Pädo-Sexualität. Heute können wir uns beides nicht mehr erklären. Warum klärte uns die Geistlichkeit über den Rektor nicht auf? Warum waren wir selbst so unwissend, blind und unfähig, Wahrnehmungen "begrifflich" zu fassen, zur Sprache zu bringen? Gab es vor 35 Jahren eigentlich schon "Tatort"-Regisseure, die das Publikum über Pädo-Sexualität aufklärten?

Beim Mittagessen schimpfte mein Vater nach einer Heizungsreparatur in der Wohnung des Rektors, der ganze Flur sei behängt mit Kinderfotos, Jungen in Badehose. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, unseren Pfarrer, mit dem ich ständig in Kontakt stand, zu dieser Sache des Pensionärs zu befragen.

Viel hielt der Rektor auf seine enge Verbindung zum Weihejahrgangs-Confrater und Essener Bischof Franz Hengsbach, der wegen seiner politischen Kampagnen gegen die lateinamerikanische Kirche der Armen kurze Zeit darauf zum Kardinal erhoben wurde. Meine Einwände gegen den Rektor waren theologischer Natur. Er predigte im Sinne des damaligen römischen Glaubenspräfekten J. Ratzinger und des Paderborner Erzbischofs gegen Eugen Drewermann, dessen Werk "Strukturen des Bösen" doch meine theologische Existenz gerettet hatte. Das Problem des Menschen, so verkündete der Rektor, sei überhaupt nicht die Angst. Er z.B. habe überhaupt gar keine Angst.

Als der Rektor sich später selbst nicht mehr versorgen konnte, musste sein Haushalt aufgelöst werden. Ein Augenzeuge hat mir Fundstücke der Wohnungsauflösung aufgezählt: ein Buchratgeber zum Thema "Wie verführt man kleine Jungen"; ein Filmfundus mit "Kinder-Pornographie", Kinder-Aktfotos (mit einem Möbelstück des Rektors) … Diese Kenntnisse habe ich vor neun Jahren den Bistümern Paderborn und Essen mitgeteilt. In Paderborn (Weihebistum, Ruhestandsbistum) lag keine relevante Personalakte zum inzwischen verstorbenen Rektor vor; aus dem für die meisten Berufsjahre zuständigen Ruhrbistum kam keine Antwort auf meine Fragestellungen.

Ein Nachschlagewerk zu NS-Kirchenkonflikten weist auf, dass der Rektor als geistlicher Religionslehrer während des 3. Reichs einmal verhört worden ist. Er hat aber nach 1945 auf dem kirchlichen Fragebogen offenbar gar nicht angegeben, worum es dabei eigentlich ging: "Näheres nicht ermittelt!"

Zum Vorschlag, in meiner Heimatgemeinde unser kollektives Wegsehen und Versagen zu reflektieren, beschied die zwischenzeitlich zuständige Ortsgeistlichkeit vor einem Jahrzehnt als Letztinstanz, das würde nur die Gemeinde beunruhigen. Das Verhalten von insgesamt drei verstorbenen Kardinälen wäre im genannten Fall zu untersuchen.

Im Bistum Münster und anderswo wird heute vorgemacht, dass weit zurückliegende Fälle konkret in Pfarrgemeinden aufgeklärt werden können. Dazu gibt es gar keine Alternative.

Für solche vertrauensbildenden Veranstaltungen müssen die Kirchenleitungen selbstredend offenlegen, welche Stationen die Geistlichen aufgrund welcher versetzungsrelevanter "Vorkommnisse" durchlaufen haben und wie die Bischöfe die jeweilige Ortsgemeinde speziell beim Umzug pädosexueller Priester ins Bild gesetzt haben, um Kinder zu schützen, oder - im anderen Fall - einfach für Stillschweigen sorgten und Akten verschwinden ließen.

Liebe Generalvikare! Es genügt heute nicht mehr, wenn ein Bistum mitteilt, es gäbe zwar Aktenlücken, aber keine Belege für eine planmäßige Selektion von Akten. Wir Getauften wollen genau wissen, welche Bistümer Transparenz schaffen und welche nicht.

Die rechtgläubigen Kandidaten des Bischofs Joachim Meisner

Im Paderborner Konvikt suchte zu der Zeit, als ich noch Priesteramtskandidat war, der Berliner Ost-/West-Bischof Joachim Meisner (1933-2017) "seine Theologiestudenten" auf. Der geistig rege Teil der Hausgemeinschaft empfand seinen infantilen Show-Auftritt am Abend als peinlich. In einem Restaurant an der Pader, so wurde mir von einem Augenzeugen mitgeteilt, wedelte der Berliner Bischof vor seinen zukünftigen Priestern mit einem dicken Bündel Geldscheine, um ihnen seine Wertschätzung auszudrücken.

Er hätte ihnen aber besser auf andere Weise Aufmerksamkeit schenken sollen. Zwei seiner romtreuen Kandidaten haben nach Zechgelagen meine Schutzgrenzen missachtet. Sie setzten sich nicht mit ihrer Homosexualität auseinander, zumal Joseph Ratzinger alsbald in Rom ein entsprechendes Priester-Berufsverbot forcierte. Nach der Beerdigung des erstgeweihten Berliners, der nicht alt geworden ist, saßen wir zu drei Männern an einem Tisch und erfuhren voneinander, dass wir alle den gleichen "Vertrauensbruch" erfahren hatten. Die gesamte abgründige Geschichte kann ich dem zuständigen Bistum auf Anfrage erläutern. Der inzwischen verstorbene Kleriker hat übrigens als Zögling einer sehr kinderreichen Familie von einem älteren Bruder selbst regelmäßig sexuelle Gewalt erfahren.

Irritationen der Meisner-Zeit in dem von Opus Dei und Neokatechumenat dominierten Erzbistum Köln halten an. Ein Übergriff gegenüber schon volljährige Personen stand offenbar einer weiteren Kleriker-Karriere nicht entgegen. Derzeit wird u.a. geprüft, warum unter Kardinal Meisner ein "Missbrauchs"-Verfahren nicht vorschriftsgemäß nach Rom gemeldet worden ist.

Zu den besonders bewegenden Stunden dieses Jahres gehört für mich die Predigt eines Seelsorgers, der der Gemeinde etwas von seinen Erfahrungen mit dem Machtmenschen Joachim Meisner mitteilte. Nach der Priesterweihe mit Handauflegung war der Kardinal auf den kritisch-loyalen Theologen zugegangen: "Jetzt habe ich Sie in meinen Fängen!" Befreiend war die persönliche Direktheit und Offenheit dieser Predigt wider den Machtkult. Die ganze Gemeinde atmete auf - mit frohen Gesichtern - und applaudierte laut. Meine über 90-jährige, geistig hellwache Banknachbarin kommentierte: "Heute war es doch so fromm!"