Karfreitag der Kirche
Joseph Ratzinger macht erneut die "68er" verantwortlich für sexualisierte Klerikergewalt. Seine Ursachenforschung ist weder fromm, noch sachgerecht. In einem seriösen Diskurs sind auch die Historiker herausgefordert
In der zweiten Hälfte dieses Beitrags soll es konkret wie nur eben möglich zugehen. Denn am Karfreitag wird kein ewiges platonisches Schauspiel - abgehoben von der Welt - zelebriert. Die Dramatik von Golgotha besteht aus blutigem Ernst. Der verachtete und zu Tode gefolterte Mensch aus "Fleisch und Blut" ist der Ernstfall.
Jesus von Nazareth wollte Menschen dazu verführen, die eigene Schönheit zu entdecken und ohne Angst den aufrechten Gang einzuüben. Ein solcher Botschafter stört, und man darf ihn nicht am Leben lassen. Das System der Kreuzes-Aufrichter nährt sich nämlich aus der Anbetung der Macht und es sinnt auf nichts anderes, als dass Menschen Macht über Menschen ausüben.
Während die Fundamentalisten in allen Religionen zur Verteidigung des "Allmächtigen" aufrufen, lautet der Ruf des Karfreitags: "Schützt den verwundbaren Menschen, beendet den Kult von Macht und Gewalt!"
Wie schön klingt den Getauften seit Kindertagen die Kunde von einem Raum, in dem Jesus endlich Gehör findet und eine Gemeinschaft von Menschen wahr wird, die nicht nach den Gesetzen der sattsam bekannten Selbsterhaltungskollektive dieser Welt funktioniert.
Die platonische Kirchenlehre soll den Abgrund verdecken
Doch die Verhältnisse im verfassten Kirchengefüge, das sich einst als "perfekte Gesellschaft" präsentieren wollte, sie sind nicht so. Sehr bald nach der konstantinischen Wende ließ die Theologenpolizei der Staatsbischöfe Menschen verbrennen. Die Kreuzes-Aufrichter waren somit ins kirchliche System eingeschleust, wie der hl. Martin von Tours mit Bitternis erkennen musste.
Kein Verbrechen wäre zu nennen, das nicht im Laufe einer zweitausendjährigen Geschichte auch von einem Inhaber des päpstlichen Stuhles oder anderen Bischöfen und Geistlichen begangen worden wäre. Aus gutem Grund wird die Kirche in keinem rechtgläubigen Katechismus als Anbetungsobjekt aufgeführt.
Die sexualisierte Klerikergewalt offenbart auf besonders drastische Weise, dass der Kult der Macht Eingang in die Gemeinde Jesu gefunden hat. Wie kann es sein, dass mit guter Kunde beauftragte Botschafter Kinder, Jugendliche und andere Schutzbefohlene seelisch ermorden - oder Schwestern zu sexuellen Sklavendiensten zwingen? In historischer und globaler Perspektive ist erst die Spitze eines Eisberges ansichtig geworden. Doch schon dies hat eine schier unaufhaltsame Pulverisierung der Kirche in Gang gesetzt.
Die bekümmerten und nachdenklichen Frommen bekennen mit Blick auf die Scheinsicherheiten des überkommenen Kirchengefüges: "Ad nihilum redactus sum. - Zu nichts bin ich geworden …". Die fundamentalistischen Anhänger einer platonischen Kirchenlehre wollen hingegen einen bequemen Weg gehen. Sie betäuben die eigene Angst und proklamieren, die feindselige Welt habe der Kirche die Schande ins Nest gesetzt.
Man muss nur befreit von den "Achtundsechzigern" zurückkehren zur reinen Lehre - wie 2010 Augsburgs Bischof Walter Mixa - und genügend Exorzisten beauftragen. Dann wird alles wieder gut.
Horizont pädosexueller Verbrechen: "Physiognomie der 68er Revolution"?
Ein Täterbischof in Florida führte schon 2002 seine eigenen Verbrechen entschuldigend auf ein bestimmtes "Klima der 70-er Jahre" zurück. In einem längeren kirchenpolitischen Text für die aktuelle Ausgabe des bayerischen "Klerusblatt" hat der Theologe Joseph Ratzinger auf eben dieser Linie vor allem die "68er Revolution" für den Abgrund pädosexueller Klerikerverbrechen verantwortlich gemacht, der Sache nach aber auch seine alte These erneuert, der zufolge eine Akzeptanz von Homosexualität einem "Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte" (!) gleichkommt.
Der Verfasser bleibt in seinem absurden Artikel meilenweit hinter Erkenntnissen zurück, die er in seinen Amtszeiten als Glaubenspräfekt und Bischof von Rom zum Gesamtkomplex der sexualisierten Gewalt erlangen musste. Die Stellungnahmen von Gewaltopfern, diffamierten Moraltheologen, kopfschüttelnden "Systematikern", bekümmerten Laienvertretern und zornigen Publizisten sind in einem Dossier des "Münsteraner Forums" und im Archiv von katholisch.de nachzulesen.
Die Quintessenz des Klerusblatt-Artikels lautet, ganz im Sinne von Kardinal Gerhard Ludwig Müller: "Wir sind die Kirche und wir sind das Opfer!"
Sollte man die Wortmeldung von Joseph Ratzinger vielleicht begrüßen, weil sie - wie Bettina Gaus zutreffend konstatiert hat - uns vor Augen führt, dass es um Teile der real existierenden Kirche viel schlimmer steht als gedacht und der "Mythos Papa emeritus" aus Deutschland jetzt endgültig ausgeträumt ist?
Der rätselhaft kurz greifende Horizont des ehemaligen Bischofs von Rom weist u.a. auch auf einen historischen Gedächtnisverlust hin, der beunruhigend ist und zwangsläufig eine "positivistische" - also faktenorientierte - Geschichtswissenschaft auf den Plan rufen wird.
Die Vergötzung des Klerikers im 19. Jahrhundert
Schon die klerikale "Sittengeschichte" des Mittelalters und der frühen Neuzeit offenbart ungezählte Widersprüche des geweihten Lebens, die freilich nicht immer zwangsläufig gewalthaltig waren. Erste Einblicke kann man sich schon durch edierte Visitationsberichte verschaffen.
Manche Reformatoren legten ohne Rücksichtnahme den Finger in die klaffende Wunde. Auch die Kulturschaffenden im Raum der römischen Kirche hatten in ihren Schöpfungen ja keine Schwierigkeiten, einen luxuriös gewandeten Klerus bis hin zu Päpsten und Kardinälen in langen Prozessionen der Hölle zuzuführen.
Noch waren Kleriker sterbliche Menschen wie alle anderen und genossen keine Immunität. Eine südwestfälische Chronik teilt zum Beispiel mit, bis etwa 1675 seien "die Leute hier zu Drolshagen auf Aschermittwoch um den hohen Altar gegangen, hätten geopfert, (…) den Wein und den Häring hat der Herr Pastor bekommen; sogar die Asche auch auf seinen Kopf." Auffällig ist, dass nach Abschluss der ultramontanen Verkirchlichung im 19. Jahrhundert öffentliche Kritik am Klerus in dieser Landschaft ganz verstummte. Wer hier ausscherte, wurde abgespeist: "Auf einem schwarzen Rock sieht man jedes Staubkorn."
Die Entwicklung, die in der Zuschreibung von göttlichen Attributen an die hierarchische Spitze eskalierte, bringt der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler 1919 so auf den Punkt: "Gehorsam gegen Gottes Gesetz ist für die strengen Katholiken gleichbedeutend mit Gehorsam gegen die kirchlichen Autoritäten."
Ob nicht besonders das 19. Jahrhundert die sexualisierte Gewalt im Kirchenraum zu ausuferndem Wachstum geführt hat, bleibt eine zentrale Forschungsfrage. Der geschichtswissenschaftliche Bestseller "Die Nonnen von Sant' Ambrogio" von Hubert Wolf zeigt als gewissenlosen Akteur im mörderisch sexualisierten Gewaltkomplex eines Frauenklosters den Jesuiten Joseph Kleutgen (1811-1883). Dieser gehörte zu den bedeutsamsten intellektuellen Dienstleistern bei der rabiaten Durchsetzung einer neuen Idee: der 1870 dogmatisierten Lehre von päpstlicher "Unfehlbarkeit" und Allgewalt.
Kleutgens Sucht der Autoritätsverfechtung wurzelte in dem, was E. Drewermann in seinem "Kleriker"-Buch als "ontologische Verunsicherung" beschrieben hat. Wer die Verzweiflung der eigenen Existenz nur dogmatisch betäubt, ist gefährdet, der Gewalt als Täter - oder Opfer - zu erliegen. (Es erübrigt sich, in den nächsten Abschnitten immer wieder anzumerken, dass dies kein exklusiv "römisch-katholischer Komplex" ist.)
Neue Kongregationen: Nur Heilsbringer?
Das ultramontane - streng nach Rom ausgerichtete - 19. Jahrhundert des Katholizismus hat eine Fülle neuer Ordenskongregationen hervorgebracht. In den konfessionellen Landschaften waren Einrichtungen dieser Kongregationen wichtige Säulen des kirchlichen Gefüges. Effiziente Missionsorden erweiterten das weltkirchliche Kommunikationsnetz. Wohl nie zuvor wurden so viele karitative Einrichtungen förmlich aus dem Boden gestampft.
Dieser explosive "Ordensfrühling" kann unter vielen Gesichtspunkten betrachtet werden. Zigtausende Christinnen und Christen solidarisierten sich mit den Ärmsten, pflegten Kranke, arbeiteten für mehr Bildungsgerechtigkeit oder erprobten neue Wege der Sozialarbeit.
Homosexuelle Menschen, die sich nicht zur Heirat berufen fühlten, fanden Schutzräume und Anerkennung für einen abweichenden Lebensentwurf. Weibliche Orden waren nicht zuletzt unter bestimmten Bedingungen auch ein Experimentierfeld für die Emanzipation von Frauen. Die lichte Seite dauert in vielen verbliebenen Einrichtungen und Konventen noch immer an.
Doch der dunkle Schatten kann nicht ausgeblendet werden. Die verkirchlichten Milieus und also auch die Orden standen unter einer äußerst rigiden Sexualmoral, deren Einhaltung durch engmaschige Sozialkontrolle (Familie, Schule, Vereine ...) gewährleistet wurde. Die Repression produzierte keine höhere Sittlichkeit, sondern ungezählte Tränen, Heuchelei und viel Gewalt.
Wie überall, so gilt natürlich auch für die in nachfolgenden Abschnitten angeführten Beispiele: Nicht alle Kongregationen, nicht alle Niederlassungen einer Kongregation und nicht alle Mitglieder eines Konventes dürfen über einen Kamm geschert werden! Schlussendlich kann Haltbares zu Licht und Schatten immer nur auf der Basis von Empirie ausgesagt werden.
Zerbrochene Magie der katholischen Landschaft
Das Beispiel von Irland vermittelt nun jedoch eine Ahnung von dem, was über Generationen die Hofchronisten des konfessionellen Milieus in ihrer Geschichtsschreibung unterschlagen haben. Der Gewalt-Schatten im Gefüge der Einrichtungen von Pfarreien und Ordensgenossenschaften war so abgründig, dass sich förmlich eine ganze Nation in blankem Entsetzen entkirchlichte. Die "Magie der katholischen Landschaft" war zerbrochen.
Anhand der bisherigen "Katholizismus-Forschung" können wir noch gar nicht sagen, wie weit entfernt von "irischen Verhältnissen" hierzulande die Lebenswirklichkeiten lagen. Erst in diesem Jahrhundert werden unvoreingenommene Studien möglich. Die Dinge sind bisweilen verzwickt.
1981 erzählte mir eine betagte Frau, ein Vikar in Eversberg habe Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Küchentisch einen tödlich verlaufenen Abtreibungsversuch bei einer jungen Frau (bzw. "Freundin") vorgenommen und sei versetzt worden. Ein Dorfbewohner bestätigte vor einiger Zeit, so etwas gehöre zur lokalen Erzählüberlieferung. Ein kirchlich gesonnener Heimatforscher weiß hingegen rein gar nichts zu diesem Thema zu sagen. Solche traurigen Geschichten lassen sich selten mit einem Tag Archivarbeit aufklären.
Wie liegen die Dinge auf dem Feld der weltweiten Missionen? Für einige Ortskirchen in Australien und anderen Zielländern europäischer Missionsorden werden u.a. horrende Zahlen zum Anteil von Pädosexuellen im Klerus genannt. Ist es abwegig, nachzuforschen, ob entsprechende Täter-Strukturen nicht vielleicht in die Zeit der neuen Missionsorden des 19. Jahrhunderts zurückreichen? War die Reise über ferne Meere attraktiv auch für Kandidaten, die man nicht als "Heilsbringer" hätte entsenden dürfen?
Man scheut sich auch hier wieder, ungezählte - um Mitmenschlichkeit hochverdiente - Ordensmitglieder unter Generalverdacht zu stellen. Doch nach den abgründigen Erkenntnissen der letzten beiden Jahrzehnte erscheint es notwendig, auch das Feld "Mission und sexuelle Gewalt" historisch in großem Maßstab zu erforschen - und zwar unabhängig von der kirchen- und ordenseigenen Missionswissenschaft.
Die "Sittlichkeitsprozesse" der Nazis: Alles Lüge?
Der nachmalige Kardinal Gerhard Ludwig Müller klagte als Bischof der besonders belasteten Diözese Regensburg im März 2010, die Medien betrieben beim Thema "Missbrauch" eine "Kampagne gegen die Kirche", die ihn an die NS-Zeit erinnere. Bis heute bleibt G.L. Müller der Meistererzähler des Motivs "Kirche ist das Opfer" und liebt seine eigene Rolle als tragische Gestalt.
Müller bezieht sich ohne Zweifel nicht auf die in Hitlerdeutschland ermordeten Märtyrer der katholischen Basis, sondern auf die ab Mitte der 1930er Jahre angestrengten "Sittlichkeitsprozesse" gegen Ordensangehörige und Priester. Bei ca. 2500, zweifellos zum Großteil in kirchenfeindlicher Absicht durchgeführten Einzelermittlungen wurden 250 Verfahren eröffnet und 150 Angeklagte zu Haftstrafen verurteilt. Müller argumentiert als "Dogmatiker" kirchenhistorisch hierzu scheinbar auf dem Stand einer Dissertation von 1971.
Eine zukünftige Kirchengeschichtsschreibung wird diesen ganzen Komplex hoffentlich anders darstellen als die alte "apologetische Schule". Einerseits muss jenen homosexuellen Ordensmitgliedern, die sich nach heutigen strafrechtlichen - und überzeugenden ethischen - Maßstäben nichts zuschulden kommen ließen und dennoch aufgrund der Anklagen wegen §175 jegliche Solidarität der kirchlichen Gemeinschaft verloren, Gerechtigkeit widerfahren.
Andererseits sind in kirchenhistorischen Darstellungen ohne Verschleierung jene Fälle darzustellen, in denen Ordensangehörige gegen anvertraute Zöglinge brutale physische, oft gleichzeitig sexualisierte Gewalt ausübten, im Einzelfall sogar mit Todesfolge. Es verwundet die Opfer noch einmal mehr, wenn die zahlreichen Gerichtsverfahren (1935ff) wegen §174 pauschal unter die Überschrift einer kirchenfeindlichen NS-Kampagne gestellt werden. Dazu sollte sich kein Historiker hergeben.
Einstweilen scheint eine weitergehende geschichtswissenschaftliche Forschung von theologischen Fakultäten noch nicht geleistet zu werden. Privatdozent Dr. Thomas Schnitzler hat dagegen im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Stiftung Demokratie Saarland am 9. März 2015 seine Studie zu einem grausamen Teilgebiet vorgelegt: "Sexualisierte Gewalt in Pflegeheimen des Bistums Trier. Unbekannte Vorfälle vor 1945". Ein 22seitiger täterbiographischer Anhang, den ich 2017 noch abrufen konnte, ist in der aktuellen Internetfassung leider nicht mehr enthalten.
Die Arbeit von PD Dr. Thomas Schnitzler ist frei von Häme und Polemik. Man kann auch als Katholik nur danken für die hier erarbeitete Hilfestellung zu einer neuen Wahrnehmung der Geschichte.
Caritasdirektor Dr. Rudolf Dietrich - ein Widerstandsheld der NS-Zeit?
Warum Opfer und auch Mitaufklärer an der Schwerhörigkeit der verbliebenen kirchlichen Selbstlob-Kollektive und Selbstschutz-Clans so oft verzweifeln, kann auch ein trauriger Kasus aus dem Erzbistum Paderborn vermitteln.
Über Paul Brune, Opfer sexueller Priester- und Pädagogen-Gewalt im römisch-katholisch geführten Johannesstift Marsberg vor und nach 1945, berichtete David Schrawen schon in der Süddeutschen Zeitung vom 3.3.2003:1 "Über Jahre wird Brune, wie er sagt, im Stift auch sexuell missbraucht. Zuerst vom Caritasdirektor des Bistums Paderborn, Rudolf D., in der Sakristei. Nach dem Krieg vom neuen Anstaltsleiter, Hubert M., in dessen Büro."1
Der hier genannte Geistliche Dr. Rudolf Dietrich (1907-1966) wechselte später mit dem nachmaligen Kardinal Franz Hengsbach ins neue Ruhrbistum Essen. Als Caritas-Direktor (1938-1954) stand Dietrich zur NS-Zeit ständig im Visier der Gestapo, doch er gehörte gewiss nicht zu jenen vergessenen Märtyrer- und KZ-Priestern, deren Gedächtnis dem deutschnationalen Militaristen Erzbischof Lorenz Jaeger 1945 extrem gleichgültig war.
Gleichwohl wird Dr. Dietrich 2016 in der Arbeit einer Schülerin als prominentes NS-Verfolgungsopfer gerühmt, was die Kirchenzeitung Der Dom vom 22.1.2017 in einem Bericht hocherfreut aufgreift. Um Schlimmeres zu verhindern, meldet sich der Katholik und pensionierte Journalist Wolfgang Stüken zu Wort, dessen Klarstellungen dann aber nur in der "Neuen Westfälischen" vom 9.3.2017 als Leserbrief ("Seltsame Aufarbeitung") erscheinen.
Niemand nimmt den Einspruch ernst, sodass auch die Caritas auf ihrer Website den einstigen Direktor noch immer unverdrossen wie ein Vorbild präsentiert. Wolfgang Stüken arbeitet weiter an einer Untersuchung zu den Marsberger Gewaltverhältnissen und hat mir vorab Einblick gewährt in ein erschütterndes Originalzeugnis des Opfers Paul Brune (1935-2015), das die oben zitierte Darstellung der "Süddeutschen" zum geistlichen Täter bekräftigt.
Abgründe bei den Vinzentinerinnen in Marsberg
Über Jahrzehnte hat Paul Brune versucht, Behörden und Öffentlichkeit über die Abgründe im Marsberger Johannesstift zu informieren. Heute ist allgemein anerkannt, dass die Zöglinge noch bis etwa 1980 eine kaum beschreibbare Leidensgeschichte durchmachen mussten. Die sexualisierte Gewalt gegen Jungen in der von Vinzentinerinnen geführten Marsberger Einrichtung ging auch von Nonnen aus, ein noch immer wenig bedachter Täterinnenkomplex.
Mit "1968" freilich konnte das sexualisierte Gewaltgefüge der frommen Frauen im Sauerland oder auch in Speyer noch nichts zu tun haben - mit rigider Sexualunterdrückung im konfessionellen Milieu aber sehr wohl. Paul Brune hat als Opfer der Einrichtung den Ordensfrauen seiner Leidenszeit später bescheinigt, bigott, ungebildet und unmündig bzw. hilflos gewesen zu sein. Man hüte sich, leichtfertig die "heilige Einfalt" zu loben!
Vor 1945 beriet die Vinzentinerinnen ein geistlicher Professor der Moraltheologie in Paderborn, der berüchtigte Joseph Mayer. Laut Insideraussagen hat er zur NS-Zeit ein dubioses "Euthanasie"-Gutachten verfasst, und es gibt wenig Grund, ihn als Anwalt von geschundenen Menschen zu betrachten. Bei Kriegsende war es für diesen V-Mann der Gestapo ratsam, ein neues Refugium zu suchen.
Kirchliche Publizistik galt damals offenbar als ideales Feld für geweihte NS-Kollaborateure. J. Mayer arbeitete 1946 bis 1956 als Schriftleiter des bayerischen Klerusblattes. (Das ist übrigens jenes Periodikum, in dem J. Ratzinger soeben seinen Artikel über die Schuld der "1968er" an sexualisierter Klerikergewalt veröffentlicht hat.)
Für eine vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe in Auftrag gegebene Dokumentation zum Marsberger Stift haben die Autoren noch lebende Ex-"Insassen" befragt. Einer der Interviewten gab an, er sei als Kind von einem "Mönch(!), der die Messe gehalten habe, vergewaltigt worden". Hier gibt es, wenn auch vage, den Hinweis auf einen weiteren männlichen Täter.
Schläge mit dem Brautring Christi: "Die Erde ist schön …"
Einer meiner Freunde ist eine Generation nach Paul Brune in einem Kinderheim aufgewachsen, das auch von einer kurz vor dem I. Vatikanum gegründeten Frauenkongregation geleitet wurde. Die Bemühungen der 68er-Generation um Befreiung der Kinder aus antiquierten Erziehungsanstalten kamen ihm erst sehr spät durch die Anstellung weltlich ausgebildeter Sozialpädagogen zugute. Mein Freund sagt nicht, die Nonnen wären in einen Orden gegangen, um ihm das Leben schwer zu machen. Er sagt vielmehr aus heutiger Sicht, dass sie völlig überfordert waren.
In Kinderzeiten war seine maßgebliche Betreuerin nur die Ordensfrau G. Sie kam aus einer stramm katholischen Bauernfamilie in Westfalen und hatte noch nicht die Möglichkeit, bei einem Therapeuten wie Eugen Drewermann Hilfe zu suchen. Ihr Essverhalten war auffällig, ein reichhaltiger Bier- und Weingenuss kam hinzu.
Den Kindern erzählte die Nonne, sie sei mit Jesus verheiratet und trage deshalb einen Ehering. In Erinnerung hat mein Freund diesen Ring, weil er bei körperlicher Züchtigung die Schmerzen vervielfachte. Die Schwester hatte nicht gelernt, wie Menschen offen miteinander sprechen statt Gewalt anzuwenden. Am Sonntag wurde gesungen: "Die Erde ist schön, es liebt sie der Herr: Neu ist der Mensch, der liebt wie er …"
Sexualisierte Gewalt ging von älteren Zöglingen aus, doch sie wurde von den Nonnen offenbar nicht erkannt. Ein Täter blieb der immerwährende Musterknabe des Hauses. Vier enge "Heim-Brüder" meines Freundes haben wegen Drogenkonsum und Suiziden nur ein kurzes Leben gehabt. Die Einrichtung war ganz durchschnittlich und ist nie Gegenstand eines öffentlichen Skandals geworden. Vor einiger Zeit begegnete mein Freund eine Novizin des Klosters aus seiner Kinderzeit. Sie ist aus dem Orden ausgetreten und lebt heute mit einer Partnerin zusammen.
Ein pädosexueller Rektor predigt gegen Eugen Drewermann
In der Zeit des Theologiestudiums habe ich an meinem Heimatort werktags oft einem pensionierten Priester, der aus dem Bistum Essen zugezogen war, zur Messe ministriert. Dieser "Rektor" hatte einen "gehobenen Lebensstil" und war bekannt für seine Kritik des bei Visiten dargereichten Gebäcks. Die katholische Publizistin im Dorf monierte seinen albernen Umgang mit Kindern im Schwimmbad am Ort. Erst viel später habe ich erfahren, dass er regelmäßig mit Kindern u.a. auch in weit auswärts gelegene Schwimmbäder gefahren ist. Alle Eltern waren ahnungslos …
Wir ehrenamtlich tätigen "Nicht-Kleriker" in der Gemeinde waren in den 1980er Jahren vollständig uninformiert bezogen auf den Rektor und auch vollständig ignorant hinsichtlich des Komplexes Pädo-Sexualität. Heute können wir uns beides nicht mehr erklären. Warum klärte uns die Geistlichkeit über den Rektor nicht auf? Warum waren wir selbst so unwissend, blind und unfähig, Wahrnehmungen "begrifflich" zu fassen, zur Sprache zu bringen? Gab es vor 35 Jahren eigentlich schon "Tatort"-Regisseure, die das Publikum über Pädo-Sexualität aufklärten?
Beim Mittagessen schimpfte mein Vater nach einer Heizungsreparatur in der Wohnung des Rektors, der ganze Flur sei behängt mit Kinderfotos, Jungen in Badehose. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, unseren Pfarrer, mit dem ich ständig in Kontakt stand, zu dieser Sache des Pensionärs zu befragen.
Viel hielt der Rektor auf seine enge Verbindung zum Weihejahrgangs-Confrater und Essener Bischof Franz Hengsbach, der wegen seiner politischen Kampagnen gegen die lateinamerikanische Kirche der Armen kurze Zeit darauf zum Kardinal erhoben wurde. Meine Einwände gegen den Rektor waren theologischer Natur. Er predigte im Sinne des damaligen römischen Glaubenspräfekten J. Ratzinger und des Paderborner Erzbischofs gegen Eugen Drewermann, dessen Werk "Strukturen des Bösen" doch meine theologische Existenz gerettet hatte. Das Problem des Menschen, so verkündete der Rektor, sei überhaupt nicht die Angst. Er z.B. habe überhaupt gar keine Angst.
Als der Rektor sich später selbst nicht mehr versorgen konnte, musste sein Haushalt aufgelöst werden. Ein Augenzeuge hat mir Fundstücke der Wohnungsauflösung aufgezählt: ein Buchratgeber zum Thema "Wie verführt man kleine Jungen"; ein Filmfundus mit "Kinder-Pornographie", Kinder-Aktfotos (mit einem Möbelstück des Rektors) … Diese Kenntnisse habe ich vor neun Jahren den Bistümern Paderborn und Essen mitgeteilt. In Paderborn (Weihebistum, Ruhestandsbistum) lag keine relevante Personalakte zum inzwischen verstorbenen Rektor vor; aus dem für die meisten Berufsjahre zuständigen Ruhrbistum kam keine Antwort auf meine Fragestellungen.
Ein Nachschlagewerk zu NS-Kirchenkonflikten weist auf, dass der Rektor als geistlicher Religionslehrer während des 3. Reichs einmal verhört worden ist. Er hat aber nach 1945 auf dem kirchlichen Fragebogen offenbar gar nicht angegeben, worum es dabei eigentlich ging: "Näheres nicht ermittelt!"
Zum Vorschlag, in meiner Heimatgemeinde unser kollektives Wegsehen und Versagen zu reflektieren, beschied die zwischenzeitlich zuständige Ortsgeistlichkeit vor einem Jahrzehnt als Letztinstanz, das würde nur die Gemeinde beunruhigen. Das Verhalten von insgesamt drei verstorbenen Kardinälen wäre im genannten Fall zu untersuchen.
Im Bistum Münster und anderswo wird heute vorgemacht, dass weit zurückliegende Fälle konkret in Pfarrgemeinden aufgeklärt werden können. Dazu gibt es gar keine Alternative.
Für solche vertrauensbildenden Veranstaltungen müssen die Kirchenleitungen selbstredend offenlegen, welche Stationen die Geistlichen aufgrund welcher versetzungsrelevanter "Vorkommnisse" durchlaufen haben und wie die Bischöfe die jeweilige Ortsgemeinde speziell beim Umzug pädosexueller Priester ins Bild gesetzt haben, um Kinder zu schützen, oder - im anderen Fall - einfach für Stillschweigen sorgten und Akten verschwinden ließen.
Liebe Generalvikare! Es genügt heute nicht mehr, wenn ein Bistum mitteilt, es gäbe zwar Aktenlücken, aber keine Belege für eine planmäßige Selektion von Akten. Wir Getauften wollen genau wissen, welche Bistümer Transparenz schaffen und welche nicht.
Die rechtgläubigen Kandidaten des Bischofs Joachim Meisner
Im Paderborner Konvikt suchte zu der Zeit, als ich noch Priesteramtskandidat war, der Berliner Ost-/West-Bischof Joachim Meisner (1933-2017) "seine Theologiestudenten" auf. Der geistig rege Teil der Hausgemeinschaft empfand seinen infantilen Show-Auftritt am Abend als peinlich. In einem Restaurant an der Pader, so wurde mir von einem Augenzeugen mitgeteilt, wedelte der Berliner Bischof vor seinen zukünftigen Priestern mit einem dicken Bündel Geldscheine, um ihnen seine Wertschätzung auszudrücken.
Er hätte ihnen aber besser auf andere Weise Aufmerksamkeit schenken sollen. Zwei seiner romtreuen Kandidaten haben nach Zechgelagen meine Schutzgrenzen missachtet. Sie setzten sich nicht mit ihrer Homosexualität auseinander, zumal Joseph Ratzinger alsbald in Rom ein entsprechendes Priester-Berufsverbot forcierte. Nach der Beerdigung des erstgeweihten Berliners, der nicht alt geworden ist, saßen wir zu drei Männern an einem Tisch und erfuhren voneinander, dass wir alle den gleichen "Vertrauensbruch" erfahren hatten. Die gesamte abgründige Geschichte kann ich dem zuständigen Bistum auf Anfrage erläutern. Der inzwischen verstorbene Kleriker hat übrigens als Zögling einer sehr kinderreichen Familie von einem älteren Bruder selbst regelmäßig sexuelle Gewalt erfahren.
Irritationen der Meisner-Zeit in dem von Opus Dei und Neokatechumenat dominierten Erzbistum Köln halten an. Ein Übergriff gegenüber schon volljährige Personen stand offenbar einer weiteren Kleriker-Karriere nicht entgegen. Derzeit wird u.a. geprüft, warum unter Kardinal Meisner ein "Missbrauchs"-Verfahren nicht vorschriftsgemäß nach Rom gemeldet worden ist.
Zu den besonders bewegenden Stunden dieses Jahres gehört für mich die Predigt eines Seelsorgers, der der Gemeinde etwas von seinen Erfahrungen mit dem Machtmenschen Joachim Meisner mitteilte. Nach der Priesterweihe mit Handauflegung war der Kardinal auf den kritisch-loyalen Theologen zugegangen: "Jetzt habe ich Sie in meinen Fängen!" Befreiend war die persönliche Direktheit und Offenheit dieser Predigt wider den Machtkult. Die ganze Gemeinde atmete auf - mit frohen Gesichtern - und applaudierte laut. Meine über 90-jährige, geistig hellwache Banknachbarin kommentierte: "Heute war es doch so fromm!"
Keine Heilung ohne Hilfe von außen
In diesem Beitrag sind einige Erfahrungen, Fakten und Gesichtspunkte zusammengeführt worden, die für ein weiteres Nachdenken hilfreich sein können. Bezogen auf den Abgrund der sexualisierten Gewalt (Ursachen, Begünstigungsfaktoren, Ausmaß, Heilungswege …) gibt es keine allwissenden Experten - weder in den Kirchen und Religionsgemeinschaften, noch in der Gesellschaft. Gewiss ist allerdings, dass im Raum der Kirche ein geistiges, ökonomisches(!) und rechtliches Machtgefüge - neben anderem - die Entstehung und Vertuschung von sexueller Gewalt befördert hat. Insbesondere der klerikale Männerbund unter Ausschluss der weiblichen Hälfte der Getauften hat jegliche Legitimität verloren, seitdem die Öffentlichkeit ihn zum beträchtlichen Teil als eine kriminelle Vereinigung einstuft. Wer hier weniger angehen will als eine neue Reformation, kann keine Autorität mehr beanspruchen.
Die schlimmste Versuchung besteht derzeit darin, angesichts der lethargischen Stimmung im Kirchenraum und im Wissen um die noch kommenden "Gebirgsmassen" bei den ersten Schritten stehen zu bleiben. Das Aufklärungsprojekt steht bestenfalls am Anfang. Erst zu einem späteren Zeitpunkt des Weges kann die Kirche vielleicht auch eigene Erfahrungen in die Gesellschaft einbringen und die Abgründe in "diakonische Kompetenz" verwandeln.
Die Auflösung der konfessionellen Milieus hat etwas Heilsames, denn jetzt gibt es bald die Vertuschungs-Clans und Stillschweige-Pakte nicht mehr. Kein Verständiger vertraut noch darauf, dass Kirchenbehörden oder kirchenamtliche Auftragsschreiber so etwas wie eine seriöse, aufklärerische "Vergangenheitsbewältigung" hinbekommen. Wo wie im Bistum Hildesheim Hilfe von außen erbeten und angenommen wird, besteht Hoffnung.
Zum Schluss: Wer sich heute noch mit Brüsseler Spitzen und Kleiderfirlefanz aus feudalistischen Zeiten schmückt, zeigt äußerlich an, dass er sich nicht helfen lassen will. Wenn einige Bischöfe im theologischen Sinn Interviews ohne Inhalt geben und offenbar nicht mehr wissen, was die Gemeinde Jesu auf dem Globus bewegt, so ist das traurig. Aber es liegt nicht an Jesus von Nazareth, sondern an den Bischöfen.