Karfreitag der Kirche

Seite 2: Zerbrochene Magie der katholischen Landschaft

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das Beispiel von Irland vermittelt nun jedoch eine Ahnung von dem, was über Generationen die Hofchronisten des konfessionellen Milieus in ihrer Geschichtsschreibung unterschlagen haben. Der Gewalt-Schatten im Gefüge der Einrichtungen von Pfarreien und Ordensgenossenschaften war so abgründig, dass sich förmlich eine ganze Nation in blankem Entsetzen entkirchlichte. Die "Magie der katholischen Landschaft" war zerbrochen.

Anhand der bisherigen "Katholizismus-Forschung" können wir noch gar nicht sagen, wie weit entfernt von "irischen Verhältnissen" hierzulande die Lebenswirklichkeiten lagen. Erst in diesem Jahrhundert werden unvoreingenommene Studien möglich. Die Dinge sind bisweilen verzwickt.

1981 erzählte mir eine betagte Frau, ein Vikar in Eversberg habe Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Küchentisch einen tödlich verlaufenen Abtreibungsversuch bei einer jungen Frau (bzw. "Freundin") vorgenommen und sei versetzt worden. Ein Dorfbewohner bestätigte vor einiger Zeit, so etwas gehöre zur lokalen Erzählüberlieferung. Ein kirchlich gesonnener Heimatforscher weiß hingegen rein gar nichts zu diesem Thema zu sagen. Solche traurigen Geschichten lassen sich selten mit einem Tag Archivarbeit aufklären.

Wie liegen die Dinge auf dem Feld der weltweiten Missionen? Für einige Ortskirchen in Australien und anderen Zielländern europäischer Missionsorden werden u.a. horrende Zahlen zum Anteil von Pädosexuellen im Klerus genannt. Ist es abwegig, nachzuforschen, ob entsprechende Täter-Strukturen nicht vielleicht in die Zeit der neuen Missionsorden des 19. Jahrhunderts zurückreichen? War die Reise über ferne Meere attraktiv auch für Kandidaten, die man nicht als "Heilsbringer" hätte entsenden dürfen?

Man scheut sich auch hier wieder, ungezählte - um Mitmenschlichkeit hochverdiente - Ordensmitglieder unter Generalverdacht zu stellen. Doch nach den abgründigen Erkenntnissen der letzten beiden Jahrzehnte erscheint es notwendig, auch das Feld "Mission und sexuelle Gewalt" historisch in großem Maßstab zu erforschen - und zwar unabhängig von der kirchen- und ordenseigenen Missionswissenschaft.

Die "Sittlichkeitsprozesse" der Nazis: Alles Lüge?

Der nachmalige Kardinal Gerhard Ludwig Müller klagte als Bischof der besonders belasteten Diözese Regensburg im März 2010, die Medien betrieben beim Thema "Missbrauch" eine "Kampagne gegen die Kirche", die ihn an die NS-Zeit erinnere. Bis heute bleibt G.L. Müller der Meistererzähler des Motivs "Kirche ist das Opfer" und liebt seine eigene Rolle als tragische Gestalt.

Müller bezieht sich ohne Zweifel nicht auf die in Hitlerdeutschland ermordeten Märtyrer der katholischen Basis, sondern auf die ab Mitte der 1930er Jahre angestrengten "Sittlichkeitsprozesse" gegen Ordensangehörige und Priester. Bei ca. 2500, zweifellos zum Großteil in kirchenfeindlicher Absicht durchgeführten Einzelermittlungen wurden 250 Verfahren eröffnet und 150 Angeklagte zu Haftstrafen verurteilt. Müller argumentiert als "Dogmatiker" kirchenhistorisch hierzu scheinbar auf dem Stand einer Dissertation von 1971.

Eine zukünftige Kirchengeschichtsschreibung wird diesen ganzen Komplex hoffentlich anders darstellen als die alte "apologetische Schule". Einerseits muss jenen homosexuellen Ordensmitgliedern, die sich nach heutigen strafrechtlichen - und überzeugenden ethischen - Maßstäben nichts zuschulden kommen ließen und dennoch aufgrund der Anklagen wegen §175 jegliche Solidarität der kirchlichen Gemeinschaft verloren, Gerechtigkeit widerfahren.

Andererseits sind in kirchenhistorischen Darstellungen ohne Verschleierung jene Fälle darzustellen, in denen Ordensangehörige gegen anvertraute Zöglinge brutale physische, oft gleichzeitig sexualisierte Gewalt ausübten, im Einzelfall sogar mit Todesfolge. Es verwundet die Opfer noch einmal mehr, wenn die zahlreichen Gerichtsverfahren (1935ff) wegen §174 pauschal unter die Überschrift einer kirchenfeindlichen NS-Kampagne gestellt werden. Dazu sollte sich kein Historiker hergeben.

Einstweilen scheint eine weitergehende geschichtswissenschaftliche Forschung von theologischen Fakultäten noch nicht geleistet zu werden. Privatdozent Dr. Thomas Schnitzler hat dagegen im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Stiftung Demokratie Saarland am 9. März 2015 seine Studie zu einem grausamen Teilgebiet vorgelegt: "Sexualisierte Gewalt in Pflegeheimen des Bistums Trier. Unbekannte Vorfälle vor 1945". Ein 22seitiger täterbiographischer Anhang, den ich 2017 noch abrufen konnte, ist in der aktuellen Internetfassung leider nicht mehr enthalten.

Die Arbeit von PD Dr. Thomas Schnitzler ist frei von Häme und Polemik. Man kann auch als Katholik nur danken für die hier erarbeitete Hilfestellung zu einer neuen Wahrnehmung der Geschichte.

Caritasdirektor Dr. Rudolf Dietrich - ein Widerstandsheld der NS-Zeit?

Warum Opfer und auch Mitaufklärer an der Schwerhörigkeit der verbliebenen kirchlichen Selbstlob-Kollektive und Selbstschutz-Clans so oft verzweifeln, kann auch ein trauriger Kasus aus dem Erzbistum Paderborn vermitteln.

Über Paul Brune, Opfer sexueller Priester- und Pädagogen-Gewalt im römisch-katholisch geführten Johannesstift Marsberg vor und nach 1945, berichtete David Schrawen schon in der Süddeutschen Zeitung vom 3.3.2003:1 "Über Jahre wird Brune, wie er sagt, im Stift auch sexuell missbraucht. Zuerst vom Caritasdirektor des Bistums Paderborn, Rudolf D., in der Sakristei. Nach dem Krieg vom neuen Anstaltsleiter, Hubert M., in dessen Büro."1

Der hier genannte Geistliche Dr. Rudolf Dietrich (1907-1966) wechselte später mit dem nachmaligen Kardinal Franz Hengsbach ins neue Ruhrbistum Essen. Als Caritas-Direktor (1938-1954) stand Dietrich zur NS-Zeit ständig im Visier der Gestapo, doch er gehörte gewiss nicht zu jenen vergessenen Märtyrer- und KZ-Priestern, deren Gedächtnis dem deutschnationalen Militaristen Erzbischof Lorenz Jaeger 1945 extrem gleichgültig war.

Gleichwohl wird Dr. Dietrich 2016 in der Arbeit einer Schülerin als prominentes NS-Verfolgungsopfer gerühmt, was die Kirchenzeitung Der Dom vom 22.1.2017 in einem Bericht hocherfreut aufgreift. Um Schlimmeres zu verhindern, meldet sich der Katholik und pensionierte Journalist Wolfgang Stüken zu Wort, dessen Klarstellungen dann aber nur in der "Neuen Westfälischen" vom 9.3.2017 als Leserbrief ("Seltsame Aufarbeitung") erscheinen.

Niemand nimmt den Einspruch ernst, sodass auch die Caritas auf ihrer Website den einstigen Direktor noch immer unverdrossen wie ein Vorbild präsentiert. Wolfgang Stüken arbeitet weiter an einer Untersuchung zu den Marsberger Gewaltverhältnissen und hat mir vorab Einblick gewährt in ein erschütterndes Originalzeugnis des Opfers Paul Brune (1935-2015), das die oben zitierte Darstellung der "Süddeutschen" zum geistlichen Täter bekräftigt.

Abgründe bei den Vinzentinerinnen in Marsberg

Über Jahrzehnte hat Paul Brune versucht, Behörden und Öffentlichkeit über die Abgründe im Marsberger Johannesstift zu informieren. Heute ist allgemein anerkannt, dass die Zöglinge noch bis etwa 1980 eine kaum beschreibbare Leidensgeschichte durchmachen mussten. Die sexualisierte Gewalt gegen Jungen in der von Vinzentinerinnen geführten Marsberger Einrichtung ging auch von Nonnen aus, ein noch immer wenig bedachter Täterinnenkomplex.

Mit "1968" freilich konnte das sexualisierte Gewaltgefüge der frommen Frauen im Sauerland oder auch in Speyer noch nichts zu tun haben - mit rigider Sexualunterdrückung im konfessionellen Milieu aber sehr wohl. Paul Brune hat als Opfer der Einrichtung den Ordensfrauen seiner Leidenszeit später bescheinigt, bigott, ungebildet und unmündig bzw. hilflos gewesen zu sein. Man hüte sich, leichtfertig die "heilige Einfalt" zu loben!

Vor 1945 beriet die Vinzentinerinnen ein geistlicher Professor der Moraltheologie in Paderborn, der berüchtigte Joseph Mayer. Laut Insideraussagen hat er zur NS-Zeit ein dubioses "Euthanasie"-Gutachten verfasst, und es gibt wenig Grund, ihn als Anwalt von geschundenen Menschen zu betrachten. Bei Kriegsende war es für diesen V-Mann der Gestapo ratsam, ein neues Refugium zu suchen.

Kirchliche Publizistik galt damals offenbar als ideales Feld für geweihte NS-Kollaborateure. J. Mayer arbeitete 1946 bis 1956 als Schriftleiter des bayerischen Klerusblattes. (Das ist übrigens jenes Periodikum, in dem J. Ratzinger soeben seinen Artikel über die Schuld der "1968er" an sexualisierter Klerikergewalt veröffentlicht hat.)

Für eine vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe in Auftrag gegebene Dokumentation zum Marsberger Stift haben die Autoren noch lebende Ex-"Insassen" befragt. Einer der Interviewten gab an, er sei als Kind von einem "Mönch(!), der die Messe gehalten habe, vergewaltigt worden". Hier gibt es, wenn auch vage, den Hinweis auf einen weiteren männlichen Täter.