Kasachstan: "Unwahrscheinlich, dass es sich um 8.000 Terroristen handelt"

Seite 2: "Zu einem großen Teil eine Arbeiterbewegung"

Sie glauben also nicht, dass es eine reine Arbeiterbewegung war?

Clare Daly: Es war zweifellos zu einem großen Teil eine Arbeiterbewegung. Aber das ist nicht alles. Ich glaube, die Geschwindigkeit, mit der sich die Ereignisse entwickelten und das Ausmaß der Gewalt und der Plünderungen ist ungewöhnlich für eine Massenbewegung.

Wahrscheinlich muss man sagen, dass es mehrere Erzählungen gibt. Wahrscheinlich stecken hinter diesen Protesten Oligarchen und ich habe keinen Zweifel, dass Kräfte aus dem Ausland und Terroristen bei den Ereignissen mitmischten.

Clare Daly wurde 2019 in Dublin in das Europäische Parlament gewählt, wo sie zur Gruppe der Linken gehört. Zuvor war sie acht Jahre Abgeordnete im irischen Parlament und Bezirksrätin. Daly wurde 1968 geboren, studierte Buchhaltung und arbeitete im Catering-Bereich des Flughafens von Dublin, wo sie Betriebsrätin und Gewerkschaftsaktivistin war.

War es eine spontane Protestbewegung oder gar eine Revolution, wie einige russische Linke sagen?

Clare Daly: In einem so großen Land, das recht autoritär regiert wird, einen landesweiten Protest zu organisieren, ist schwer. Es ist offensichtlich, dass die staatlichen Organe keine Kontrolle über die Protestbewegung hatten. Es ist aber auch offensichtlich, dass staatliche Organe von Privatpersonen benutzt wurden.

Das schmälert aber nicht die Rolle der einfachen Menschen, die auf die Straße gegangen sind, um Gerechtigkeit einzufordern. Das Ausmaß der Gewalt und die Geschwindigkeit, mit der auf Seiten der Demonstranten Waffen gegen die Polizei eingesetzt wurden, sowie die Tatsache, dass eine Reihe von Demonstranten den Eindruck gemacht haben, sie hätten ein Kampftraining absolviert – all das deutet darauf hin, dass fremde Elemente sich an den Protesten beteiligt haben, um einen Vorteil zu erzielen.

Ich gehe davon aus, dass es jetzt eine Untersuchung der Ereignisse geben wird. Das müsste eine unabhängige Untersuchung sein, die das Vertrauen der Menschen in Kasachstan hat. Es heißt, dass rund 8.000 Menschen ins Gefängnis gekommen sind. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich dabei um 8.000 Terroristen handelt. Ich bin sicher, dass auch einfache Bürger festgenommen wurden.

Treffen in Kasachstan angestrebt

Sie wollen nach Kasachstan fahren?

Clare Daly: Es wäre gut nach Kasachstan zu fahren und so viel Menschen zu treffen wie möglich. Man müsste Menschen von allen Seiten treffen. Es wäre gut, die Bergarbeiter und die Protestler zu treffen. Außerdem müsste man Vertreter der neuen Regierung und des Geheimdienstes treffen.

Gewerkschafter, Bürger und Linke aus Europa sollten eine solche Reise organisieren. Denn über die Konflikte in den postsowjetischen Staaten hören wir in den westlichen Medien so gut wie nichts Fundiertes. Wir sollten dorthin hingehen, ohne uns vorher ein Bild zu machen, was wir dort finden werden.

Wie beurteilen sie die Reaktion der EU?

Clare Daly: Die Reaktion der EU war äußerst fragwürdig. Sie interessierte sich nicht, als die friedliche Bewegung gegen die Gaspreiserhöhung begann. Die EU interessierte sich erst für die Ereignisse, als die Truppen der OVKS nach Kasachstan geschickt wurden.

Die EU ist auf der einen Seite froh, dass der Status quo in Kasachstan erhalten wurde. Auf der anderen Seite will die EU nicht, dass Russland seine Position in der Region ausbaut. Und sie suchen einen weiteren Anlass, um auf Russland Druck auszuüben.

Viele westliche Medien haben ausführlich über die Flüchtlingskrise in Belarus berichtet. Über die Ereignisse in Kasachstan wird dagegen sehr wenig berichtet. Was ist der Grund?

Clare Daly: Belarus steht aus westlicher Sicht unter russischer Kontrolle. Zu Belarus hat die EU nicht so starke Wirtschaftsbeziehungen wie zu Kasachstan. In Kasachstan aber hat der Westen starke wirtschaftliche Interessen. Die internationalen Unternehmen haben massiv von den kasachischen Bodenschätzen profitiert und der Westen will das Land in ruhigem Fahrwasser halten.