Kein Argument gegen den allgemeinen Mindestlohn

Seite 2: "Ein großer Teil der erstarkten Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist auf Lohnzurückhaltung anstatt auf Produktivitätszuwächse zurückzuführen"

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In Anbetracht einer derartigen Situation auf unzuverlässige Prognosemodelle mit unzutreffenden Annahmen zu setzen, wäre fahrlässig. Vielmehr kann es sich empfehlen, einige grundlegende Entwicklungen der vergangenen ein bis zwei Jahrzehnte zur Kenntnis zu nehmen. So kam nicht zuletzt jenes Wirtschaftsforschungsinstitut, das in diesem Jahr erstmals wieder am Gemeinschaftsgutachten beteiligt wurde, in seinem DIW Wochenbericht Nr. 26 (2013) selbst zu dem Schluss:

Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands aus einer längerfristigen Perspektive, so zeigt sich, dass das Land im Vergleich zu den meisten EU-Ländern und vielen Euroländern in einigen Bereichen zurückgeblieben ist. Seit 1999 haben die Euroländer im Durchschnitt mehr Wirtschaftswachstum erzielt als Deutschland, und ein großer Teil der erstarkten Wettbewerbsfähigkeit ist auf Lohnzurückhaltung anstatt auf Produktivitätszuwächse zurückzuführen. Die Investitionsquote war längere Zeit rückläufig und ist im internationalen Vergleich niedrig.

Auch viele andere haben darauf hingewiesen, wie schlecht es um die Lohnentwicklung8 und besonders den Niedriglohnsektor9 in Deutschland bestellt ist. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn könnte hier das deutsche Lohngefüge nicht nur stabilisieren, sondern ebenso den Niedriglohnsektor zu beseitigen helfen.

Meta-Studien zeigen überdies, dass entgegen der weit gestreuten Meinung keine negativen Beschäftigungswirkungen von einem allgemeinen Mindestlohn ausgehen.10 Heiner Flassbeck weist des Weiteren bereits seit vielen Jahren darauf hin, welch desaströse Wirkung die historisch einzigartige Lohnzurückhaltung in Deutschland auf die Eurozone ausübt und wie sie letztlich zu einer untragbaren Situation geführt hat, indem andere Länder durch die deutsche Unterwanderung vereinbarter Inflationsziele11 kaputt konkurriert werden.12

Wie sich in der angegebenen Studie zeigt, hat sich das deutsche Wirtschaftsmodell auch dadurch in die Sackgasse manövriert, dass der Unternehmenssektor mittlerweile zu einem Nettosparer geworden ist, der somit nicht mehr seiner historischen Aufgabe nachkommt, die Ersparnisse der privaten Haushalte in produktive Investitionen zu überführen. Dies erfolgte wohlgemerkt in einer langen Phase sinkender Unternehmens- und Spitzensteuersätze, sowie stagnierender Reallöhne, die bei den unteren Einkommensbeziehern durch mangelnde Kaufkraft gerade zu dem Ausbleiben von Inlandsnachfrage geführt hat und weiterhin führt.

In Anbetracht der dargestellten dramatischen wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland nicht auf die nahe liegenden und von der Mehrheit der Bevölkerung befürworteten Maßnahmen (allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn und Steuererhöhungen für jene, die auf der Gewinnerseite der gewachsenen Ungleichheit stehen) zurückzugreifen, sondern sich stattdessen hinter prognostisch mehr als zweifelhaften Empfehlungen zu verstecken, grenzt an Absurdität (oder eben klassische Interessensvertretung im Dienste einer kleinen oberen Bevölkerungsschicht).