Kein Waffenstillstand für Rojava

Sheik Mahsud, Aleppo, 2011. Bild: Govorkov/CC BY 2.0

Türkische und kurdische Koalitionen und Machtinteressen bei den Kämpfen um Aleppo

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Die Angriffe auf das nordsyrische Selbstverwaltungsgebiet Rojava eskalieren im Schatten des am 27. Februar 2016 vereinbarten Genf-III Waffenstillstands immer weiter. Akteure sind dabei die türkische Armee, die sogenannte "Istanbuler Opposition" (Nationale Koalition, ETILAF) und zu ihr gehörige im Kurdischen Nationalrat (ENKS) organisierte kurdische Kräfte, aber auch salafistische Gruppen wie Ahrar as Sham und die in Genf III nicht inkludierten Jabhat al Nusra.

Die Gefechte im Dreieck Afrin, Kobanî, Aleppo nahmen in den letzten Wochen immer größeren Umfang an. Am 14. April beschoss die türkische Armee das Dorf Hewar in der Nähe der Grenzstadt Azaz, dabei kamen nach Angaben der syrisch-kurdischen Nachrichtenseite Hawarnews 25 Zivilpersonen ums Leben. Insbesondere das nach dem Modell der Demokratischen Autonomie von Rojava selbstverwaltete und den Volks-und Frauenverteidigungskräften YPG/YPJ geschützte Stadtviertel Aleppos, Sheik Mahsud (kurdisch: Şêxmesûd) wurde immer wieder zum Ziel von Angriffen.

Vorwürfe des Einsatzes von Chemiewaffen

Nach einem am 12. April veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sind bei den Angriffen auf Sheik Mahsud seit dem 5. April 2016 mindesten 18 Zivilpersonen, unter ihnen sieben Kinder und fünf Frauen durch Mörserbeschuss getötet worden. Die Angriffe auf das Stadtviertel Sheik Mahsud wurden in aller Härte und Undifferenziertheit mit schweren Waffen ausgeübt; insgesamt wird mittlerweile von über 40 in letzten Wochen getöteten Zivilpersonen gesprochen.

Bei "Angriffen der Banden der Nationalen Koalition und des ENKS auf Şêxmesûd, die am 5. April begannen, wurden entwickelte schwere Waffen eingesetzt. Es werden Raketen und Chemiewaffen benutzt", behauptete die YPG.

Der Chemiewaffenangriff wurde von der salafistischen Milizenkoalition Dschaisch al-Islam verübt, wie der ENKS gegenüber Rudaw in seiner Distanzierung bestätigte. Dschaisch al-Islam ist ebenfalls sowohl Teil des Genfer Verhandlungsprozesses als auch Teil des "Operationsraums Aleppo" dem auch Einheiten der Nationalen Koalition angehören.

Dieser Angriff ist allerdings nur einer von drei dokumentierten Giftgasangriffen im Rahmen dieser Angriffswelle auf Sheik Mahsud. So sollen nach Angaben von Ärzten der Hilfsorganisation Heyva Sor (Roter Halbmond) gegenüber Hawarnews von der "Istanbuler Opposition" am 13.03.2016 Chlorgas und Phosphorbomben, aber auch gefüllte Haushaltsgasflaschen als Artilleriegranaten eingesetzt worden sein. Dies sei auch an der Art der Verletzungen und Verbrennungen feststellbar gewesen.

Die an den Angriffen auf Sheik Mahsud beteiligte Nationale Opposition verurteilte diesen Angriff am 5. April. Daraufhin erklärte ihre Partnerin Dschaisch al-Islam ebenfalls, dieser Angriff sei unautorisiert. Zugleich forderte die dschihadistische Miliz die Bevölkerung von Sheik Mahsud auf, den Stadtteil zu verlassen. Diese Äußerung, insbesondere nach einem ausgedehnten Angriff auf die Zivilbevölkerung durch schweren Artilleriebeschuss, wird von kurdischer Seite als Ankündigung weiterer heftiger Angriffe verstanden.

Unterstützung für Ahrar ash-Sham

Die Intention dahinter besteht nach Ansicht von Idris Nassan, Sprecher des Kantons Kobane, darin, die Region nach türkischen Interessen "ethnisch zu säubern":

Sie wollen die Zivilbevölkerung von Sheik Mahsud umbringen und jetzt sagen sie, sie wollen diese beschützen, warum haben sie das nicht von Beginn an getan… Sie verbreiten dieses Statement, um die Verbrechen, die sie in den letzten zwei Monaten inklusive der Benutzung von international geächteten chemischen Waffen begangen haben, zu verschleiern.

Auch die syrisch-türkische Grenzstadt Tall Abad (Gire Sipi) wurde am 15. April wieder mit türkischer Artillerie beschossen. Um diese Angriffswelle zu verstehen, muss auf die Genf III Gespräche zurückgeblickt werden. Auf Druck der Türkei war die in Rojava politisch führende kurdische Partei PYD explizit von den Verhandlungen ausgeschlossen worden. Wohl als Geschenk an die Türkei wurde auf Druck von Bundesaußenminister Franz-Walter Steinmeier der engste Bündnispartner des Al Qaida Ablegers Jabat al-Nusra, die Ahrar ash-Sham, eingeladen.

Ahrar ash-Sham wird von der Türkei und Katar offen unterstützt und stellt einen der ersten Bündnispartner von Dschabhat al-Nusra dar. Guido Steinberg von der aus Bundesmitteln finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) charakterisiert Ahrar ash-Scham als der Al-Nusra-Front "ideologisch sehr nahe" stehend. Er bestätigt ebenfalls deren enge organisatorische Verbindung mit der Dschaisch al-Fatah (Armee der Eroberung). ).1 Ähnlich wie Ahrar ash Sham, nahm auch Jaish al Islam an den Genf III Verhandlungen teil.

Dieser internationale Delegitimierungsversuch der Selbstverwaltung von Rojava und die Protegierung der Türkei durch Deutschland stärkten deren Position und antikurdische Haltung weiter. Die Selbstverwaltung von Rojava ließ sich allerdings nicht in die politische Defensive drängen und rief am 17. März gemeinsam mit Vertretern aller in der Region lebenden Bevölkerungsgruppen und unter Anerkennung aller von den Vereinten Nationen garantierten individuellen und kollektiven Rechte ein "föderales, demokratisches Nordsyrien-Rojava" aus.

Das Modell der "Demokratischen Autonomie" wird als Bedrohung gewertet

Damit war nach der Gründung der aus den YPG/YPG, assyrischen, arabischen und turkmenischen bestehenden Demokratischen Kräfte Syriens am 11. Oktober 2015 ein weiterer Schritt für den Aufbau einer multiethnischen und multireligiösen Alternative zum syrischen Zentralismus getan. Mit diesem Schritt bewegte sich das Modell der Demokratischen Autonomie weiter darauf zu, auch jenseits von Rojava als Alternative und nicht mehr nur als ein kurdisches Projekt wahrgenommen zu werden. Dieser Schritt wurde sowohl von der Türkei als auch dem Assad Regime als Bedrohung gewertet.

Offenbar ist es diesbezüglich zumindest zu indirekten, über Algerien vermittelten Gesprächen zwischen den beiden feindlichen Parteien gekommen. Die Türkei agierte vor allem durch ihre Schattenkrieger von der Nationalen Koalition und der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) des irakisch-kurdischen Präsidenten Massoud Barzani. Die Ausrufung der Föderation wurde ebenfalls lautstark von der Nationalen Koalition, der der Barzani-nahe ENKS angehört, kritisiert.

Auffällig ist, dass die Angriffe auf Sheik Mahsud und Rojava von den USA wie auch Russland ignoriert werden und stattdessen behauptet wird: "Die Waffenruhe wird eingehalten." Die syrische Regierung äußerte ebenfalls klar ihre Ablehnung. Möglicherweise ist auch dies ein Grund für das Schweigen Russlands zu den Angriffen auf Sheik Mahsud.

Turkmenische Milizen und die Türkei

Gemeinsam mit den oben genannten Kampfeinheiten agieren in der Region um Azaz herum auch turkmenische Milizen wie die Sultan-Murad-Brigade und viele andere, die direkt aus der Türkei rekrutiert werden. Erst am 14.04. wurden die letzten Transporte von Waffen über die Grenze bei Kilis unter Beobachtung einer Delegation unter Leitung des MIT Staatssekretärs Hakan Fidan nach Angaben von Hawarnews durchgeführt. Viele usbekische und turkmenische Kämpfer warteten an der Grenze um ebenfalls über die Grenze nach Azaz gebracht zu werden, um die de-facto-"Besatzungszone" der Türkei zu stärken.

Die turkmenischen Milizen beziehen sich bei ihren Aktionen explizit auf die Türkei. So zeigt ein YouTube-Video, wie sie Bomben mit der Aufschrift "Rache für Istanbul", "Rache für Ankara" auf Sheik Mesud schießen. Mit den Aufschriften beziehen sie sich auf die These der Regierung, die YPG sei für die Anschläge im Westen der Türkei verantwortlich.

Zu diesen Anschlägen in Ankara hatte sich eine Abspaltung von der PKK, die Freiheitsfalken Kurdistans TAK bekannt. Die Sultan-Murad-Brigade war ebenfalls in Kooperation zwischen Türkei, Saudi-Arabien und KDK ins Leben gerufen worden, tritt aber mittlerweile auch als Freie Syrische Armee auf und soll in der Region an die Stelle des IS gesetzt werden und damit de facto eine türkische Pufferzone schaffen.

Dieses Konzept einer türkischen Besatzungszone in Nordsyrien/Rojava wird ebenfalls von der Politik der Bundesregierung befeuert, indem diese durch ihren euphemistisch als Flüchtlingsdeal bezeichneten Menschenhandel die Abschiebungen aus der Türkei nach Syrien und die Schließung der türkischen Grenzen stützt und somit die legitimatorische Vorbedingung für eine angeblich nicht existente sichere Zone in Syrien schafft.

Das Ziel ist der Kanton Afrîn, dessen ökonomische Lebensader Sheik Mesud darstellt. Es gibt keine Verbindung zu den anderen Kantonen und die Grenzen zu Nordkurdistan und der Türkei sind geschlossen. An Sheik Mesud führt eine zentrale Versorgungslinie für alle Kräfte, die in der Region nördlich agieren vorbei, daher bedeutet Kontrolle über die Castello Road zu haben, einen taktischen Vorteil in der ganzen Region zu besitzen.

Koalitionen bei der Eroberung von Aleppo

Für das Regime hat eine Eroberung Aleppos ebenfalls als Provinzhauptstadt eine hohe strategische Bedeutung. Dies gilt auch für die Demokratische Föderation Nordsyrien, Sheik Mesud als Stadtteil von Aleppo könnte den Beginn eines neuen föderalen, multiethnische und multikulturelle Syriens bilden und eine Lösung innerhalb Aleppos könnte dazu beitragen, dass die Demokratische Autonomie noch stärker als gesamtsyrisches Projekt wahrgenommen wird.

Ein wichtiger Faktor ist die offensichtliche Beteiligung kurdischer Einheiten von ENKS-Parteien an der Seite dschihadistischer Milizen, an der Offensive gegen Sheik Mahsud. Abdul Hakim Bashar von der KDP-Syrien ist stellvertretender Vorsitzender der Nationalen Koalition.

Peshmerga-Spezialeinheit, in der Nähe der syrischen Grenze, 2014. Bild: Enno Lenze/CC BY 2.0

Der ENKS hat zusammen mit der KDP im Nordirak mehrere Tausend "Rojava-Peschmerga" als Parteimilizen ausgebildet, die in die Region entsandt werden sollten. Beobachtungen von Einheiten der Demokratischen Kräfte Syriens, denen auch die Volksverteidigungseinheiten (YPG) angehören, besagen, dass viele dieser "Rojava-Peschmerga" in dieser Region gegen die Selbstverwaltung kämpfen.

Die Peschmerga-Führung dementiert dies entschieden. Da die "Peschmerga Rojavas" von den PDK-Peschmerga in Südkurdistan ausgestattet und ausgebildet worden sind, könnte nach dem Verbleib der an diese gelieferten deutscher Waffen gefragt werden. Zu klären wäre auch, ob die Bundeswehr, wie sie es bei ähnlichen Einheiten in Şengal (Sindschar) getan hat (Streit um Shengal), auch hier für Ausbildung sorgte und damit zumindest für die Region Nordsyrien taktische Verbündete dschihadistischer Terrorbanden stützte.

Hinzu kommt ein bei Hawarnews veröffentlichter Brief von Ahrar al-Scham an Dschabahat al-Nusra, der bei der Befreiung von Tel Rifat (Arfet) an die Öffentlichkeit gelangte. Unterstellt man dem Dokument Authentizität, dann wird hier belegt, dass KDP und/oder ENKS mit Hilfe der türkischen Regierungspartei AKP und des türkischen Geheimdienstes MIT über Azaz militärische Einheiten Richtung Aleppo geschickt haben.

Der Brief, unterzeichnet am 4. Januar 2016 mit dem Siegel der Ahrar al-Scham, ist an "die Kommandantur unserer Al-Nusra-Geschwister im Bereich Aleppo" gerichtet und enthält die Aufforderung:

Aufgrund der aktuellen Lage [im Text vorher als Vormarsch von Regime und PKK im Raum Aleppo beschrieben, Anm. d.A.] fordern wir, dass unsere Brüder von der Kommandantur von Al-Nusra es erlauben, dass unsere Soldaten, die aus dem Nordirak kommen, über die türkische Grenze kommen und in Azaz stationiert werden können. Die benannten Personen werden Peschmerga genannt. (…) Sie stellen keine andere kurdische Kraft dar, sondern werden sich der Opposition gegen das safawidische Regime über die Türkei anschließen. Diese Soldaten, die im Norden des Irak warten, sind aus eigenem Antrieb bereit dazu, an einem speziellen Kommando zur vollständigen Befreiung von Aleppo teilzunehmen, diese Region von Baschars Regime und seinen PKK-Terroristen zu säubern …

Im Rahmen dieses Prozesses begannen ebenfalls die Angriffe auf Aleppo-Sheik Mahsud unter Beteiligung von Ehfad-ı Selahattin (tritt auch als 13. Brigade oder Saladin Brigade auf), die enge Verbindungen zur KDP hat. Sie wird in staatsnahen türkischen Medien stolz als kurdische "Anti-PYD"-Gruppe [PYD=Partei der Demokratischen Einheit] beschrieben. Nach Angaben des Vorsitzenden der im ENKS vertretenen und mittlerweile mit der KDP-Syrien (KDP-S) vereinigten Azadî-Partei, Mustafa Cuma, ist die Brigade mit seiner Partei verbunden.

So ist es auch kein Wunder, dass er in einem Video, in dem Ehfad-i Selahattin gelobt, ein "Vorrücken der PKK auf Azaz und Cerablus [Dscharabulus-vom IS besetzt] zu verhindern", unter "Allahu-akbar"-Rufen bejubelt wird. In Sheik Mahsud ließen bei gefallenen Angreifern immer wieder deren Organisationszugehörigkeit feststellen.

Die Barzani-Regierung und die türkische AKP

So waren unter den am 7. April 2016 getöteten Angreifern neben mehreren Mitgliedern von Dschabhat al-Nusra und Ahrar al-Scham auch Sultan-Murat-Brigadisten. Von letzteren gehörten einige dem türkischen Geheimdienstes MIT an. Viele dieser Angriffe weisen ebenfalls auffällige Gleichzeitigkeiten mit Angriffen der türkischen Armee auf.

Die Politik der KDP in Südkurdistan/Nordirak ist vor allem auf eigene Machtinteressen in Rojava, aber auch auf eine verschärfte Abhängigkeit von der Türkei zurückzuführen. Präsident Barzanî von der KDP regiert dort mittlerweile verfassungswidrig in einer weiteren Amtszeit. Die Ökonomie, die zu 95 % auf Erdöleinnahmen basiert, kommt ins Schleudern, die Regierung kann das Militär monatelang nicht bezahlen.

Die Unzufriedenheit wächst in dem Klientel-System, viele Menschen verlassen das Land. Das System ist so fragil, dass selbst den Parlamentspräsidenten von der Gorran Partei die Einreise in die Hauptstadt Erbil verweigert wurde und fünf Gorran Minister entlassen wurden.

Die Instabilität kann jederzeit zum Zusammenbruch des Barsani Sytems führen. Der Autor selbst führte Interviews mit etlichen Peschmerga, die seit Monaten ihren Sold nicht erhielten und nach eigenen Angaben "nur stillhalten, da sie sonst fertiggemacht" würden. So ist die Barzani-Regierung noch stärker auf ihre enge Partnerin, die türkische Regierungspartei AKP, angewiesen, die sich für Barsanis dritte illegitime Amtszeit gemeinsam mit den USA stark gemacht hatte. Um Barsanis Herrschaft zu untermauern und den Einfluss der PKK insbesondere bei einer potentiellen Offensive auf Mossul zurückzuhalten, installierte die türkische Regierung etwa 2.000 Soldaten in der Region Bashika vor Mossul.

Doch nicht nur mit militärischen Mitteln soll die Bevölkerung von ganz Rojava demoralisiert werden. AKP und KDP scheinen sich auf eine gemeinsame Embargopolitik gegen Rojava geeinigt zu haben. So hat die Türkei zeitgleich mit der KDP die Grenzen schließen lassen. Dieses Embargo blockiert mittlerweile sämtlichen Grenzverkehr. So kommen seit zwei Monaten keinerlei Medikamente über die Grenze mit Südkurdistan oder der Türkei/Nordkurdistan.

Die Einreise von humanitären Helfern, Medienvertretern und Bewohnern nach Rojava wird systematisch verhindert. Personen, die die Grenze überqueren wollen, werden sogar mit Repression überzogen. So wurde die Mitarbeiterin des Hamburger Linken-Bürgerschaftsabgeordneten Martin Dolzer, Beriwan Al-Zin, von der KDP fünfzehn Tage inhaftiert. Rojava soll auf allen Ebenen abgeschnitten werden.